Feindselige Tiraden sind es, mit denen sich Frust und Verbitterung vieler Tunesier im Internet artikulieren. Die Äußerungen von Politikern stehen dem in kaum etwas nach. Mitte März führte diese Stimmung zu Ausschreitungen gegen subsaharische Migranten, die Tunesien passieren und auf eine Transfermöglichkeit nach Europa warten. Und die oft sehr lange warten. Zwar haben sich die Gemüter derzeit wieder beruhigt, doch abgeklungen sind die Konflikte zwischen Migranten und Einheimischen keineswegs.
Befeuert werden sie durch die Mär vom „schwarzafrikanischen Plan“. Danach könne einem ganzen Kontinent Genugtuung widerfahren, wenn „weiße Nordafrikaner“ ins Meer getrieben würden. Die Drohfantasie eines Teils der Migranten oder die Angstfantasie eines Teils der Tunesier? Was kolportiert wird, ist zu absurd, um ernst genommen zu werden – wäre das halluzinierte Horrorszenario nicht ein Symptom: Die Gehirne bedrängter Menschen geben preis, wozu sie fähig sein können, wenn Hass und Gewalt die Oberhand gewinnen.
Präsident Kais Saied sah keinen anderen Weg der Schlichtung, als subsaharische Migranten zur sofortigen Rückkehr in ihre Heimatländer Niger, Tschad oder Mali zu bewegen. Vor dem Nationalen Sicherheitsrat übernahm er die populistische Deutung der Krise und bediente sich eines rassistischen Vokabulars. So nannte er die schätzungsweise 21.000 in seinem Land Gestrandeten „migrantische Horden“ und sprach von einem „seit Beginn des 21. Jahrhunderts ausgeheckten kriminellen Plan“. Dieser habe das Ziel, die „demografische Zusammensetzung Tunesiens“ zu verändern.
Migranten loswerden hat oberste Priorität
Wer genau hinhörte, erkannte Parallelen zum identitären Diskurs des rechtsradikalen französischen Autors und Politikers Éric Zemmour (der Freitag 46/2021), der von einem „Bevölkerungsaustausch“ spricht, den nordafrikanische Muslime in Frankreich vorantreiben würden. Saied verstieg sich dazu, die Nachbarländer Libyen und Algerien der Mitverantwortung zu beschuldigen. Viele Migranten würden von dort einreisen. Der eigentliche Grund dafür dürfte freilich sein, dass eine Überfahrt nach Italien von Tunesien aus am einfachsten scheint.
Kaid Saied, der seit der Ausschaltung des Parlaments im Juli 2021 über Verordnungen regiert, hat einen strengen Gebrauch bestehender Gesetze gegen illegale Einwanderung angekündigt. Daraus resultieren vermehrte Polizeikontrollen und die Festnahme Hunderter Migranten. Vermietern und Arbeitgebern drohen hohe Strafen, wenn sie Menschen ohne Aufenthaltspapiere Zimmer überlassen oder eine Beschäftigung gewähren.
Migranten, die sich illegal in Tunesien aufhalten, wird angeboten, ihnen dafür geltende Geldstrafen zu erlassen, sollten sie das Land unverzüglich verlassen. Von den rassistischen Übergriffen geschockt, haben das viele der Betroffenen angenommen, zumal ihnen eine geordnete Ausreise unter Polizeischutz in Bussen möglich war. Zuvor gab es Absprachen mit den Behörden der Herkunftsländer, die sich bereit zeigten, ihre Staatsbürger nicht nur wieder aufzunehmen, sondern – teils durch Regierungsvertreter – offiziell begrüßen zu lassen.
Die EU trägt einen Teil der Schuld
Da sich nicht zuletzt auch legal in Tunesien lebende Schwarzafrikaner, vor allem Studenten aus den subsaharischen Ländern, von rassistischem Pöbel bedroht sehen, werden die nun unter administrativen und polizeilichen Schutz gestellt. Damit gelingt es Staatschef Saied, sich bei hochrangigen Repräsentanten der Afrikanischen Union (AU) aus der Schusslinie zu ziehen. Bankole Adeoye, AU-Kommissar für Politik, Frieden und Sicherheit, und Minata Samaté Cessouma, AU-Kommissarin für Gesundheit und humanitäre Angelegenheiten, verkündeten in Tunis, sie hätten Verständnis für die Position Tunesiens in der Migrationsfrage. Es sei zu begrüßen, dass man Maßnahmen zum Schutz legaler Einwanderer eingeleitet habe. Nur kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein überliefertes Gewohnheitsrecht wie das der offenen Grenzen, das bisher die innerafrikanische Arbeitsmigration erleichtert hat, vor großen Einschränkungen steht.
Weniger nachsichtig als die von Saieds Kraftakt direkt betroffenen Staaten sind nicht nur etliche Menschenrechtsverbände. Auch die Weltbank hat Tunesien schon zugesagte Kredite endgültig storniert. Die Abschiebungen gaben den Ausschlag dafür, einen Präsidenten im Regen stehenzulassen, der sich aus Weltbank-Sicht durch einige Entscheidungen am neoliberalen Wirtschaftskanon vergangen hat. Bis auf Weiteres bleibt eine Partnerschaft mit Tunis eingefroren.
Tatsächlich trägt die EU einen Teil der Schuld am erbärmlichen Schicksal von Migranten in Tunesien. Sie hat gerade in den vergangenen Monaten ihr Grenzregime gegen Einwanderer aus Afrika und Asien verschärft, ohne etwas für Möglichkeiten legaler Migration zu tun. Von ernsthaften Anstrengungen, strukturelle Fluchtursachen in armen Regionen zu beseitigen, ganz zu schweigen. Da die Inflation mit über zehn Prozent gerade einen Negativrekord aufstellt, winkt Tunesien eher der Ausnahmezustand als eine erlösende Normalität.
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