Fauler Kompromiss

ALGERIEN Das Projekt der "Concorde Civile" hat die Gewalt nicht beendet - doch die lähmende Stagnation des vergangenen Jahrzehnts ist überwunden

Am 13. Januar 2000 um Mitternacht ging in Algerien die Frist zu Ende, die das Referendum vom 16. September 1999 für Terroristen gesetzt hatte: Sie sollten sich ergeben, um von bedeutenden Strafnachlässen zu profitieren. Als abgeschlossen gelten kann indes nur das Kapitel der ohnehin seit über zwei Jahren im Waffenstillstand stehenden Armée Islamique du Salut (AIS), dem bewaffneten Arm des FIS (Front Islamique du Salut). Die AIS-Mitglieder wurden am 14. Januar amnestiert - am selben Tag gab die Organisation ihre Selbstauflösung bekannt.

Trotz aller Bemühungen, den erhofften großen Frieden hat das Land noch nicht erreicht, obwohl auch eine große Zahl von Angehörigen des zweiten islamistischen Guerilla-Verbandes - des Groupe Islamique Armé (GIA) - die Möglichkeit nutzte sich zu ergeben. Manche Terroristen kehrten mit ihren Familien aus den Bergen zurück. Im Oktober stellte sich auch eine Frau den Behörden, die angab, mit ihren Kindern vor drei Jahren ihrem Mann zum GIA gefolgt zu sein. Nachdem er als Abweichler zum Tode verurteilt und ihre Kinder vor ihren Augen getötet worden waren, habe man sie selbst gezwungen, bei nächtlichen Massakern Frauen zu schächten und ihnen den Schmuck abzunehmen. Nach ihrer Flucht war sie sechs Tage allein in den Wäldern herumgeirrt, bis sie eine Polizeistation fand. - Dennoch, das Morden geht weiter: Massaker in Dörfern, vor allem auf den Landstraßen. Nach wie vor halten falsche Gendarmen Busse an und töten die Insassen. Es ist nur ein relativer Trost, dass sie sich in letzter Zeit auch öfter mit dem Abliefern von Geld und Schmuck begnügt haben. Von vielen noch aktiven Emiren wird angenommen, dass sie sich vor allem deshalb nicht ergeben, weil der Straßenraub ergiebiger scheint als die vom Staat versprochene Hilfe für ihre Familien. Andere haben einfach das geraubte Geld noch nicht "gewaschen" - was zumeist durch Familienmitglieder geschieht, die in der Legalität geblieben sind.

Die Hauptstadt Algier, die schon sicher schien, wurde im November vom Attentat auf Abdelkader Hachani überrascht, dem einstigen FIS-Führer, der die Partei zum Wahlsieg von 1991 geführt hatte. Seit zwei Jahren aus dem Gefängnis entlassen, hatte er sich für einen Dialog mit der Regierung eingesetzt. Er war sicher auch ein Vermittler in Fragen der Concorde Civile, ohne indes auf das Ziel einer politischen Rehabilitierung des FIS zu verzichten. Der junge Mann, der ihn im Wartezimmer eines Zahnarztes erschoss, soll ein Einzeltäter gewesen sein - ein Terrorist, der die Bindung an seine Gruppe bereits verloren hatte und deshalb noch im Besitz von Hachanis Papieren war, als er drei Wochen später in Algier gefasst wurde. Dass es weiterhin Gruppen gibt, die entschlossen sind, den Kampf in aller Konsequenz fortzusetzen, zeigte ein Gefecht zwischen Terroristen und Ordnungskräften, das am 22. Januar bei Relizane stattfand und 32 Terroristen sowie 25 Soldaten das Leben kostete.

Obwohl die Bevölkerung, die im September zu mehr als zwei Dritteln für die Concorde Civile votiert hatte, sich von dem Gnadenerweis entschieden mehr Sicherheit erhofft hatte, ermöglichte doch der Versuch, auf diese Weise Frieden zu finden, einen Erfolg, der entscheidend Präsident Bouteflika zu danken ist. Er hat dem Land auf internationaler Ebene verlorenes Prestige zurückgegeben. Denn nicht nur humanitäre Organisationen - zeitweise ganze Staatengruppen wie die EU - zogen in Zweifel, ob die Gewalt gegen Zivilisten tatsächlich nur von Terroristen ausging. Sie fragten, ob nicht auch der Staat dabei sein Spiel trieb. Sie forderten Versöhnung, teilweise sogar die Machtübergabe an den Wahlsieger von 1991 - den FIS.

Heute kann niemand mehr behaupten, der algerische Staat habe die Hand zur Versöhnung nicht ausgestreckt. Die islamistische Seite kann sich kaum mehr nur als Opfer darstellen. Es ist deutlich geworden, dass sie sich schwerster Menschenrechtsvergehen schuldig machte und weiterhin macht. Die algerische Republik hat nun zwar noch keinen Sieg über die Gewalt, aber Punkte im Kampf um Menschenrechte gewonnen, wie sie derzeit in der Welt definiert sind. Und obgleich diese Republik derzeit nicht in der Lage ist, die sich in der Fortdauer des Terrorismus offenbarende tiefe Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, ist die politische Stagnation der vergangenen Jahre vorbei. Nicht allein die Gefahr eines islamistischen Staates ist gebannt. Auch die Ruinen des den Islamismus ideologisch integrierenden FLN-Staates (*) von einst zerfallen wohl endgültig. Dem noch vor einem Jahr noch so umstrittenen Präsidenten Bouteflika ist es gelungen, Anfang Januar eine "Regierung der nationalen Verantwortung" zu bilden, in der fast alle Parteien vertreten sind, von den sogenannten Demokraten bis zu den legalen Islamisten - allein der sozialdemokratisch orientierte Front des Forces Socialistes (FFS) wollte sich nicht beteiligen.

Bouteflika selbst hört nicht auf, die zur Modernisierung bereiten Kräfte zu ermutigen. Schon wagt niemand mehr, die Liberalität zu kritisieren, die er in der Sprachenfrage durchgesetzt hat. Zum ohnmächtigen Ärger der Konservativen absolvierte er eine Audienz beim Papst und hielt eine Neujahrsansprache - obwohl nach dem islamischen Kalender der Zeitpunkt des Übergangs ins Jahr 2000 kei nerlei Bedeutung hatte. Die Dreitausendjahrfeier der ostalgerischen Stadt Constantine erinnerte nicht nur an die arabischen, sondern auch an die jüdischen, berberischen, römischen und phönizischen Traditionen der Region. Zu der in diesen Tagen stattfindenden Tausendjahrfeier von Algier wurden viele Künstlertruppen aus anderen Mittelmeerländern (Italien, Frankreich) geladen. Algerien soll sich nicht mehr nur der arabischen Welt zugehörig fühlen. Es darf sich nun auch zu den historisch gewachsenen Identitäten bekennen, die es mit den nördlichen Nachbarn gemeinsam hat.

(*) Front de la Libération Nationale, einstige Staatspartei, die seit der Unabhängigkeit von 1962 bis Anfang der neunziger Jahre allein regiert hatte.

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