Frankreich: Die Deformation der Demokratie nimmt überhand

Meinung Dass in Frankreich letztlich der Verfassungsrat über die Legitimität der Rentenreform entscheidet ist Zeichen einer deformierten Demokratie. Sabine Kebir sieht die Gewaltenteilung in vielen Staaten erodieren
Ausgabe 16/2023
Die Proteste in Frankreich nehmen kein Ende
Die Proteste in Frankreich nehmen kein Ende

Foto: Imago/NurPhoto

Viele Bürger in den westlichen Demokratien glaubten, sich auf die Gewaltenteilung mehr verlassen zu können als auf die Programme der Parteien, die sie wählten. Nun häufen sich in vielen jener Staaten die Anzeichen dafür, dass diese wichtige Säule des Systems, die eine Demokratie von der Autokratie unterscheidet, ins Wanken gerät. In Polen und Ungarn steht die Unabhängigkeit der Justiz schon länger infrage. In den USA brüskiert Donald Trump offen die Justiz und hat seine Anhänger Anfang 2021 inspiriert, den für die Legislative zuständigen Kongress zu stürmen. In Israel ist eine Reform geplant, mit der sich das Parlament über Entscheidungen des höchsten Gerichts hinwegsetzen kann, das als Institution die Funktion einer Verfassung hat.

Auf durchaus autoritäre Weise hat der französische Präsident Emmanuel Macron am 14. April seine Rentenreform durchgesetzt – gegen Millionen von Menschen, die seit Monaten demonstrieren und streiken. Angesichts eines wachsenden Bruttosozialprodukts und der Tatsache, dass die Ausgaben für Versorgung und Ausbildung der jungen Generation die Gesamtgesellschaft viel teurer zu stehen kommen als eine angemessene Versorgung älterer Bürger, ist die Reform als Umverteilungsmanöver zugunsten des Unternehmertums erkennbar. Weil sich Macron einer Entscheidung im Parlament nicht sicher war, rief er den Verfassungsrat an. Allerdings präsentiert der das Wahlvolk erst recht nicht. Drei der neun Mitglieder kann der Staatschef selber einsetzen, darunter den Präsidenten des Gremiums. Drei andere werden vom Präsidenten des Senats und drei weitere vom Parlamentspräsidenten berufen.

Wenn man weiß, dass die derzeitige Sprecherin der Nationalversammlung, Yaël Braun-Pivet, Macrons Parteigenossin ist und Senatspräsident Gérard Larcher den in gaullistischer Tradition stehenden Les Républicains angehört, verwundert es nicht, dass der Verfassungsrat die im Unternehmerinteresse stehende Rentenreform für legal erklärte. Zugleich lehnte er ein Referendum darüber ab. Sollte das beantragt werden, wäre dies erst im Mai möglich. Gebraucht würden fünf Millionen Unterschriften. Macron kann darauf hoffen, dass eine solch enorme organisatorische Leistung kaum von der naturgemäß zersplitterten Zivilgesellschaft erbracht werden kann.

Es wird immer unausweichlicher, dass nicht nur in Frankreich über neue Parameter sowie Eckpunkte für eine moderne Demokratie diskutiert und um ihre Durchsetzung gekämpft wird. Die ältesten Demokratien schleppen besonders alte Zöpfe mit sich herum. Erinnert sei an das grotesk lange verweigerte Frauenwahlrecht in Frankreich und in der Schweiz. Wenn es dort 1944 beziehungsweise 1971 eingeführt werden konnte, erinnert dies daran, dass auch der Status quo etablierter Demokratien nicht sakrosankt ist. Er kann verändert, wenn nicht erheblich revidiert werden. Das ebenfalls auf frühere Entwicklungsstufen der Gesellschaft zurückgehende Präsidialsystem, das in Afrika von den sich befreienden Kolonien teilweise übernommen wurde, gibt den Amtsinhabern viel zu weitreichende Vollmachten und gehört zumindest stark reformiert – wenn nicht abgeschafft.

Während die Massendemonstrationen in Israel wenigstens einen vorläufigen Aufschub der Reform bewirkt haben, sind die tapferen Demonstrationen und Streiks der Franzosen offenbar vergeblich gewesen. Die Proteste gehen zwar weiter, aber müssten sich noch viel stärker auf dringlich gewordene Systemfragen konzentrieren.

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