Obwohl sich das jetzige Finanz- und Wirtschaftsdebakel lange absehen ließ, wurde auch die Linke in Deutschland - gemeint ist nicht nur die gleichnamige Partei - von dieser Hegemoniekrise des Kapitalismus überrascht. Es fehlt zwar weder in der deutschen noch in der Weltgesellschaft an guten und ausgearbeiteten Ideen für sozial gerechtere Systeme. Aber es fehlt nach wie vor an Organisationsmöglichkeit, um diese Ideen zu einer neuen Widerstandskultur zu verschmelzen, auf der sich eine neuen Zivilisation gründen könnte.
Pierre Bourdieu, der die tiefe Abhängigkeit der Intellektuellen und Künstler von den sie beschäftigenden Industrien aufgezeigt hat, zerstörte die naive Hoffung auf das "Umdenken" einer relevanten Anzahl derer, die den hegemonialen Mainstream prägen. Daher ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es - wie bereits Frieder Otto Wolf in seinem Beitrag im Freitag 47/08 hervorhob - bestenfalls zu einer "passiven Revolution" kommt, zu einer "von oben" organisierten temporären und partiellen "Vermenschlichung" des Kapitalismus. Genau dies hat Nicolas Sarkozy bereits zum Credo seiner Krisenbewältigung gemacht, die massive Staatsinterventionen vorsieht. Ob es gelingt, die unkalkulierbaren Auswirkungen der Krise nicht nur für die wohlhabenden, sondern auch die armen Bürger Frankreichs abzufedern, ist fraglich. Um den Balanceakt zu bewältigen, wird Sarkozy sein bislang nur ansatzweise zu Tage getretenes autoritäres Potential, aber auch sein Talent als Star der Regenbogenpresse weiter entfalten. Ob die deutsche Kanzlerin die richtige Frau für einen ähnlichen Weg ist, muss sich noch zeigen.
Was wäre die Voraussetzung, damit die Linke die Krise nutzt, auf dass daraus nicht nur eine "passive Revolution" hervorgeht, sondern Weichenstellungen für den Aufbau von wirklich solidarisch-ökologischen Gemeinwesen?
Der Begriff der "passiven Revolution" stammt von Antonio Gramsci, der ihn nicht nur auf den Fordismus, sondern auch den italienischen Faschismus bezog, weil der mit ersten Ansätzen von Wirtschaftsdirigismus die Privatwirtschaft und das soziale System zu gestalten suchte, indem er etwa Billigjobs zur Trockenlegung von Sümpfen schuf. Dass der Linken die Neugestaltung der Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg und der darauf folgenden Hegemoniekrise des Kapitalismus versagt blieb, sah Gramsci als Folge ihres mangelnden kulturellen Einflusses an. Als erster Marxist und im Vorgriff auf die Kritische Theorie erkannte er die systemstabilisierende Kraft der modernen Kulturindustrien.
Die damals von Arbeitern, aber auch von Frauen und Jugendlichen mit der Tageszeitung konsumierten kitschigen Fortsetzungsromane, die er in der selben Weise kritisiert hat, wie wir das heute mit der Fernsehsoap tun, beschäftigten die Herzen und Hirne eben stärker als die Frage nach einer neuen Gesellschaft. 1926, kurz vor seiner Verhaftung, schrieb Gramsci: "... in den Ländern des fortgeschrittenen Kapitalismus besitzt die herrschende Klasse politische und organisatorische Reserven, die sie beispielsweise in Russland nicht besaß". Dort seien die Massen werde analphabetisiert gewesen, noch habe es eine Zivilgesellschaft und moderne Kulturindustrie gegeben. Für Länder mit ausgebildeter Zivilgesellschaft hätten "die schwersten ökonomischen Krisen keine sofortigen Rückwirkungen auf politischem Gebiet ... Der Staatsapparat ist sehr viel resistenter, als man oft glauben könnte, und es gelingt ihm, in Krisenmomenten viel mehr regimetreue Kräfte zu organisieren, als es die Tiefe der Krise ahnen lassen würde."
Aus Gramscis Sicht konnte es weder aus der Hegemoniekrise des Kapitalismus nach 1918 noch aus dem Faschismus heraus einen direkten Übergang zu einer solidarischen Gesellschaft geben. Der Faschismus hatte den Aufbau von kulturellen und Bildungsstrukturen autoritär verhindert, aus denen genügend Menschen mit den Charakterzügen und Fähigkeiten hervorgehen konnten, die für den Aufbau einer solchen Gesellschaft nötig waren.
Der 1989 untergegangene Ostblock wiederum kam nicht darüber hinaus, die von ihm durchaus beförderten Kultur- und Bildungspotentiale autoritär zu verwalten. Er erstickte - wie es Rudolf Bahro schon in Die Alternative prophezeite - an den von ihm selbst erzeugten, aber gefesselt bleibenden emanzipatorischen Möglichkeiten.
Gramsci hielt daher eine demokratische Phase für nötig, in der die Linke den Kampf um die Hegemonie auch als Kampf für Chancengleichheit in der Bildung und für die Teilhabe aller am kulturellen Leben führen müsse. Auch das beste soziale Programm erreicht nur wenige Herzen und Hirne, wenn die anderen Lebensbereiche unangesprochen blieben. Obwohl zu unterstellen ist, dass seinerzeit Willy Brandts sozialliberale Koalition in Kultur- und Bildungsfragen nicht nur von der Studentenbewegung, sondern auch von der Systemkonkurrenz mit dem Sozialismus getrieben war, hat sie in diesem Punkt durchaus für richtige Weichenstellungen gesorgt: Es wurde das bürgerliche Bildungsmonopol gebrochen, wodurch sich ganz neue Schichten in Behörden und wie auch im Bildungswesen etablieren konnten. Mit Hilmar Hoffmanns Programm "Kultur für alle" förderte die SPD einst ein dichtes, gesellschaftlich subventioniertes Netz von Kultureinrichtungen, in denen sich lokale Bedürfnisse mit Impulsen aus der nationalen und der Weltkultur kreativ auseinandersetzen konnten. Auch wenn dies unter dem Vorwand angeblicher Sparzwängen wieder rückgängig gemacht wurde, sind ihre Spätfolgen bis heute im nicht verebbten Streit um das Verhältnis von öffentlicher und privater Verantwortung in der Bildung spürbar.
In der Kultur ist dagegen kaum noch sozialistisches und sozialliberales Erbe auszumachen. Von sozialer Verantwortung geprägte Kulturprodukte entstehen mehr oder weniger zufällig auf der hochkulturellen Ebene und werden auch nur dort wahrgenommen. Die breiten Bevölkerungskreise werden heute mit Filmen, Musik und Büchern einer globalisierten Kulturwirtschaft abgespeist. Mit ganz wenigen Ausnahmen ist sogar in islamischen Ländern der Hollywoodfilm das für die meisten Menschen am leichtesten zugängliche Kulturgut geworden. Damit ihre Produkte in allen Kontexten konsumierbar werden, ist die globale Kulturindustrie mittlerweile darauf aus, eine kulturell und oft auch moralisch indifferente Ware abzusetzen. Darin wird eine mögliche Teilhabe an einem imaginären Reich unbegrenzter globaler Freiheit vorgegaukelt, was jungen Menschen nicht etwa soziales Engagement, sondern die Flucht aus ihrem unerträglichen Gemeinwesen nahe legt: Flucht in ein anderes Land, in Drogen oder in eine Religion. Es gibt derzeit keine linke Kulturtheorie, die beispielsweise die Relevanz der Analysen von Horkheimer und Adorno über die US-Kulturindustrie in den vierziger Jahren auf ihre heutige globale Ausdehnung hin untersucht.
Die Unterschätzung oder Banalisierung der globalisierten Kulturindustrie, auch bei Linken üblich, verhindert, das Lokale als komplexen Lebenszusammenhang zu begreifen, der nicht nur eine Geschichte hat, sondern auch eine Zukunft erzeugen kann. Damit ist jede kollektive Entwicklung basisdemokratischer Utopie, die über kurzfristige Proteste hinausgeht, aus dem Blickwinkel des durchschnittlichen homo oeconomicus verschwunden.
Wenn Archäologen römisch-griechische Gegenstände in den Gräbern keltischer Adliger finden, zeigt das, wie alt die Tendenz zur Globalisierung der herrschenden Klassen schon ist. Auch wenn sich diese Klassen nicht selten Territorien, Märkte und Rohstoffe untereinander streitig machten, war ihr internationalistischer Korpsgeist doch stets schnell geweckt, sobald lokale Gemeinwesen daran gingen, sich von ihnen zu befreien. Erinnert sei nur an die Allianz der europäischen Monarchien gegen die Französische Revolution nach 1789, an das plötzliche Bündnis Frankreichs und Preußens gegen die Pariser Kommune 1891 oder die Interventionskriege gegen die Oktoberrevolution nach 1917. Wenn an einem bestimmten Punkt der historischen Entwicklung auch die Linke begann, eine "Internationale" zu singen, erkannte sie die Unumkehrbarkeit der Globalisierung an. Aber sie nahm sich vor, die herrschaftsfreie Selbstorganisation des Lokalen zu fördern, freilich nicht in Abgrenzung und Konkurrenz zu anderen Gemeinschaften, sondern in gegenseitigem Respekt.
Auf Demokratie und Recht zu warten, bis sie sich in einheitlichen Standards weltweit durchsetzen, ergibt ebenso wenig Sinn wie der Versuch, sie weltweit forciert durchzusetzen. Die Globalisierung muss in ihren Einzelaspekten beurteilt werden. Heutige Linke, von denen viele sie allzu optimistisch sahen, sollten sich bequemen, wieder an der Selbstorganisation des Lokalen - und auch der Nationalkultur - mitzuwirken. Sofern sie dabei die Migranten als gleichberechtigte Bürger einbeziehen und Multikulturalität als Bestandteil des Lokalen und des Nationalen konzipieren, steuern sie den Rechtsradikalen entgegen.
Wenn Individualismus und Freiheit nicht mehr nur als blinder Konsumismus und Angebot zur Flucht in andere Welten gesehen, sondern mit sozialer Empathie gelebt werden, sind Räume und Medien nötig, in denen das Volk experimentieren kann. Deshalb müssen SPD, Grüne und Linke verhindern, dass die bereits spektakulär geschrumpften Kulturetats von Ländern und Kommunen gerade jetzt in der Krise weiter eingedampft werden. Solidarisch-ökologische Zukunft kann nur im Aufschwung der Popularkultur entstehen.
Alle bisherigen Texte unserer Serie finden Sie unter www.freitag.de
Sabine Kebir, geboren 1949 in Leipzig, arbeitete als Literaturwissenschaftlerin in Ost-Berlin, wanderte 1977 nach Algerien aus und kam 1988 nach Westberlin. Sie lebt heute als Publizistin, Literaturwissenschaftlerin, Politologin und freie Autorin in Berlin.
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