Hüterin der Revolution

Porträt Najla Bouden will als Premierministerin Tunesiens das Erbe der Arabellion von 2011 bewahren. Kann ihr das gelingen?
Ausgabe 42/2021
Würde sie der neoliberalen Ökonomie einen Klassenkampf von oben oktroyieren?
Würde sie der neoliberalen Ökonomie einen Klassenkampf von oben oktroyieren?

Foto: Xinhua/Imago Images

Dass Präsident Kaïs Saïed Ende Juli die Regierung von Hichem Mechichi entließ und im September das Parlament auflöste, stieß auf viel Beifall in der Bevölkerung. Gegen die soziale Dauerkrise und einen aufflammenden Corona-Notstand zeigten Saïeds Dekrete sofortige Wirkung. Als er den Ausnahmezustand mehrfach verlängerte, führte das zu einem von der starken islamistischen Ennahda-Partei genährten und im Westen kolportierten Verdacht, dieser Präsident wolle sich zum Diktator aufschwingen. Dabei kann Kaïs Saïed stets für demokratische Überraschungscoups sorgen. Ende September ernannte er Najla Bouden Romdhane zur neuen Ministerpräsidentin. Es ist kein Zufall, dass Tunesien der erste arabische Staat ist, in dem eine Frau die Amtsgeschäfte einer Regierungschefin übernimmt. Obwohl das Land bis zum Arabischen Frühling 2011 nicht als Demokratie gelten konnte, wurde die Gleichberechtigung von Frauen und Männern mit der 1956 errungenen Unabhängigkeit als Staatsziel festgelegt. Wenn dem zielstrebig entsprochen wurde, dann für alle Schichten. Die UN-Organisation International Fund for Agricultural Development, die besonders auf das Empowerment von Landfrauen fokussiert ist, hat Tunesien soeben einen Preis für Gleichberechtigung verliehen.

Folglich fehlt es nicht an kompetenten Politikerinnen, sodass Najla Bouden kaum lange suchen musste, um sieben Frauen in ihr aus 25 Ministern bestehendes Regierungsteam zu berufen – und zwar keinesfalls für marginalisierte Ressorts. Künftig werden die Ministerien für Justiz, für Finanzen, für Industrie und Bergbau, für Handel, für Anlagen und Wohnungsbau, für Umwelt, für Familie und für Kultur von Tunesierinnen geführt. Die 63-jährige Bouden, geboren in Kairouan, einer 100.000-Einwohner-Stadt südwestlich von Tunis, absolvierte ein Ingenieurstudium für öffentliches Bauen und Bergbau in Paris, promovierte dort als Geologin und lehrte dieses Fach bis 2011 an der Nationalen Ingenieurschule von Tunis. Nach dem Umsturz ernannte man sie zur Generaldirektorin des Ministeriums für Hochschulwesen und wissenschaftliche Forschung. 2015 dann arbeitete sie als Sonderbeauftragte des Bildungsministers, seit 2016 vertraute man ihr die Regierungskommission für eine Reform des Hochschulwesens an.

In ihrer am 11. Oktober abgegebenen Regierungserklärung nannte Bouden die „Restauration der Hoffnung auf eine gesicherte ökonomische und gesundheitliche Versorgung der Bürger“ ihr wichtigstes Anliegen. Man brauche wieder Vertrauen in die Regierung, aber auch – und hier spielte sie auf den in den vergangenen Monaten infrage gestellten demokratischen Weg an – das Vertrauen des Auslands. Sie habe vor, die ökonomischen Standards „zu redynamisieren“, um „durch qualifizierte Dienstleistungen die Lebensumstände der Bürger und ihre Kaufkraft zu erhöhen“. Offenbar will sie nicht nur der Korruption in den Arm fallen, sondern auch – wie das durch die Dekrete des Präsidenten bereits eingeleitet wurde – die Verbraucherpreise unter Kontrolle bringen. Den von der Revolution vor zehn Jahren enttäuschten Tunesiern käme sie damit entgegen. Doch würde sie einer liberal aufgestellten Ökonomie einen Klassenkampf von oben oktroyieren? Auf dessen Ausgang darf man gespannt sein. Immerhin hat Tunesien starke Gewerkschaften, die bei den zu erwartenden Konflikten klar Position beziehen werden. So wird erkennbar sein, inwieweit sich ein nordafrikanisches Land aus der wirtschaftsliberalen Zwangsjacke internationaler Kreditinstitute befreien kann, die sich bisher gegen jede Beschneidung der Privatökonomie verwahren.

Um den Reformprozess überhaupt in Gang zu halten, muss Bouden vorrangig die Justiz reformieren, die schon jetzt – ähnlich wie im Nachbarland Algerien – mit diversen Korruptionsskandalen beschäftigt ist. Nimmt sie es auf sich, durch eigene Konsequenz den Klassenkampf der Besitzenden anzuheizen? Riskanter als das wäre allerdings der Versuch, mit juristischen Mittel den islamistischen Netzwerken zu begegnen. Ausgerechnet das einzige Land des Arabischen Frühlings, dem nach westlicher Interpretation 2011 die demokratische Wende gelungen ist, bringt den weltweit größten Prozentsatz an Dschihadisten hervor (s. der Freitag 41/21). Sowohl der Präsident als auch die Premierministerin scheinen sich dessen bewusst zu sein, dass solch fatale Fehlentwicklung nur durch merklich verbesserte berufliche Perspektiven für die Jugend aufgehalten werden kann.

Bislang sind die präsidialen Entschlüsse ein besonders schwerer Schlag für die Ennahda-Partei, die im Parlament die meisten Abgeordneten stellte. Zuletzt nahm ihr Einfluss auf die Bevölkerung nicht nur ab wegen des Unvermögens, Missstände zu beseitigen, sondern auch, weil nicht mehr zu übersehen war, welchen Anteil Ennahda daran hatte, dass sich Jugendliche radikalisierten. Das Etikett einer demokratisch geläuterten Partei verblasste. Ihr Chef, Rachid Ghannouchi, büßte viel von seinem Charisma ein. Im September verließen 130 hohe Kader die Partei.

Weder der Präsident noch die Regierungschefin gehören einer Partei an. Als Kaïs Saïd das Parlament suspendierte, verkündete er, Tunesien müsse nach einem Weg suchen, auf dem Parteien weniger, dafür zivilgesellschaftliche Gremien mehr Einfluss auf die Politik nehmen sollten. Hier spiegelt sich – nur ein Jahrzehnt nach der Auflösung des Einparteiensystems – auch Ernüchterung über die 2011 adaptierte Form von Demokratie, wie das für ganz Afrika festzustellen ist. Mit welchen neuen Institutionen eine wirkliche Demokratie erprobt werden kann – das ist die wohl größte Herausforderung für Najla Bouden.

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