„Ich weiß es nicht“

Biografie Ricarda Bethke ist die Tochter des Arztes und linken Politikers Richard Schmincke. Bis heute bleibt ihr der eigene Vater ein Rätsel
Ausgabe 38/2021

Monatelang, nein, über Jahre hatte die junge Frau befürchtet, dass Richard für immer verschwinden würde – in den Kellern der Gestapo oder in die Emigration. 1939 wuchs die Sorge, dass er Suizid begehen könnte. Sie hatte ihn nicht dazu bewegen können, das acht Wochen alte Kind zusammen auszufahren. Dabei hatten sie es trotz oder gerade wegen zunehmender Aussichtslosigkeit zur Befestigung des gemeinsamen Überlebenswillens gezeugt. Nun aber konnte auch das Kind ihn nicht aus der Depression reißen. Dass es Ricarda hieß – die weibliche Form von Richard –, spiegelte schon die Ahnung, dass es Richard mal würde ersetzen müssen.

Weil Kinder täglich an die Luft sollen, lief Änne allein mit dem Kinderwagen eine ängstliche kleine Weile über den Ku’damm. Als sie zurückkam, fand sie die Wohnungstür offen und sah Richards Füße über der Badewanne baumeln.

Von dem Schock kann sie sich lange nicht erholen, kommt in die Psychiatrie. Und kaum kehrt sie in ihren Schwesternberuf zurück, ereilt sie, was die Nazis den Gefährdern der „Volksgesundheit“ aufzwangen. Sterilisiert wurde Änne nicht nur wegen ihrer psychischen Fragilität, sondern auch wegen ihrer Verbindung zum kommunistischen Stadtrat Dr. Richard Schmincke.

Nach dem Krieg fehlte vielen Kindern der Vater. Da war Ricarda keine große Ausnahme. Aber ihr Vater war weder gefallen noch von den Nazis umgebracht worden. Warum er sich selbst den Tod gegeben, Änne und sie, das Neugeborene, verlassen hatte, blieb eine der bohrenden Fragen. Einiges aus Richards Nachlass passte nicht recht in die bescheidene Bleibe der Großeltern im thüringischen Rudolstadt, wo Änne mit dem Kind unterkam: ein paar elegante Möbel, Silberbesteck, zwei Koffer mit fremdländischen Aufklebern. Einer voller Mitbringsel aus China, die das Mädchen bezauberten.

Erst posthum erfuhr der Sozialmediziner Schmincke öffentliche Anerkennung. Wenn in der DDR eine neue Etappe des Kinder- und Mütterschutzes erreicht wurde oder 1968 die „Antibabypille“ allgemein zugänglich und 1972 der „Schwangerschaftsabbruch“ in die Verantwortung der Frau gelegt wurde, sagte Änne ihrer Tochter: „Dafür hat Richard immer gekämpft.“ Straßen und eine medizinische Fachhochschule trugen seinen Namen. Der Brecht-Schüler Ernst Schumacher dichtete ein Rezitatorium über ihn, das 1977 im Apollosaal der Staatsoper mit Brechts Schwiegersohn Ekkehard Schall aufgeführt wurde. Das bedeutete Mutter und Tochter wenig. Im persönlichen Trauma gefangen, mochten sie nicht mit Dritten über Richard Schmincke sprechen.

Diese Scheu wurde zum Erschrecken, „als in den fröhlichen Tagen der deutschen Wiedervereinigung die Bezeichnung ‚Kommunist‘ immer häufiger und schon wieder in die Nähe des ‚Verbrecherischen‘ geriet“, wie Ricarda Bethke in ihrer Spurensuche über ihren Vater schreibt. 2008 schlug der Tochter ein Zeitungsartikel mit der Überschrift „Die Machenschaften des Dr. Schmincke“ entgegen, womit dessen Aktivität als gewählter Gesundheitsdezernent in Berlin-Neukölln von 1927 bis 1933 gemeint war.

Dort hatte er etliche soziale Institutionen und Sexualberatung eingerichtet. Trotz Wohlbeleibtheit und bürgerlichem Habitus vertrauten Neuköllns Proletarier ihrem Stadtrat. Als Arzt versorgte er von Nazis Zusammengeschlagene. Oft musste er ihnen auch Totenscheine ausstellen. Nun zählten zu seinen „Machenschaften“ auch seine 1925 – 1927 oft vergeblichen Versuche, als Landtagsabgeordneter der KPD in Sachsen Soziales wie die Erhöhung des Arbeitslosengeldes durchzusetzen oder die Wiedereinführung des Zehnstundentags abzuschmettern. Als unverzeihlich stellte sich plötzlich dar, dass Schmincke mehrfach in der Sowjetunion war, wo er die ersten Erfolge sozialen Schutzes für Mütter und Kinder in Augenschein nahm. Und völlig unakzeptabel war, dass er 1924 – 1925 im Auftrag der Komintern nach China und Japan reiste, wo er allerdings nicht als Geheimagent und unter Klarnamen auftrat. Er gehörte zum Ärzteteam des todkranken Sun Yat-sen.

Bereits mit dem 2001 bei S. Fischer publizierten Buch Die anders rote Fahne hatte Ricarda Bethke gezeigt, dass sie in der DDR nicht zu den zweifelsfrei gläubigen Linken gehörte. Und sie nahm jetzt nicht hin, dass der ganze linke Antifaschismus in den Orkus geschickt wurde. Zu erforschen, was Richard Schmincke wirklich antrieb, wurde ihr zur Notwendigkeit.

Außer zwei Taschen voller Briefe und Dokumente, die sie im Kleiderschrank der Mutter fand, zog sie zahlreiche Quellen aus Archiven und Bibliotheken heran. Das jetzt publizierte Buch Rotes Erbe meistert die schwierige Verwebung persönlicher Betroffenheit mit dem welthistorischen Horizont. Dabei entsteht keine der modischen Autofiktionen. Ungeklärtes und Widersprüchliches werden nicht geglättet. Die Autorin konnte nicht wirklich nachvollziehen, wieso der Bade- und Modearzt Schmincke, der nach dem Ersten Weltkrieg ertragreiche Praxen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Rapallo betrieb, Kommunist wurde. Und sie fand auch kaum Hinweise darauf, wieso seine Begeisterung für die Sowjetunion so getrübt wurde, dass er die an ihn herangetragene Idee, dorthin zu emigrieren, strikt ablehnte. Immer wieder wagt Bethke zu schreiben: „Ich weiß es nicht.“

1933 aus dem Amt gejagt

Entschädigt wird der Leser mit viel Wissen, das aus dem allgemeinen historischen Bewusstsein herauskatapultiert wurde. Kaum noch ist bekannt, dass wichtige sozialmedizinische Errungenschaften der Weimarer Republik vor allem von Linken aus KPD und SPD gefordert und teilweise auch umgesetzt wurden, bevor die Nazis sie wieder abschafften. Und ebenso wenig ist bekannt, dass die Nazis nicht nur für Juden sofort Berufsbeschränkungen dekretierten, sondern auch für Kommunisten in gehobenen Positionen. Schmincke wurde 1933 aus dem Amt gejagt und verhaftet. Freigekommen, verlor er die Zulassung als Kassenarzt. Und er war politisch so gebrandmarkt, dass es ihm nicht mehr gelang, eine einträgliche Privatpraxis aufzubauen. Zunehmend wurde er physisch bedroht. Und 1939 wurde ihm mit dem Entzug der Approbation endgültig verboten, an der „Volksgesundheit“ mitzuarbeiten.

Dieser vielbeschäftigte und -geplagte Mann war zudem alleinerziehender Vater eines schwierigen Jungen, der weder mit dem Fortgang der Mutter fertigwurde noch damit, dass Richard seit 1929 mit der 33 Jahre jüngeren Änne zusammenlebte. Diese sehr patriarchal anmutende Verbindung hinterfragt auch die Tochter immer wieder. Für Richards Familie war Änne zu arm und zu ungebildet. Er aber hatte ihre Klugheit erkannt und Gefallen an ihrem fröhlichen Wesen gefunden. Energisch unterstützte er ihre Aus- und Weiterbildung. Für Haushaltsführung brauchte sie sich nicht zu interessieren. Richard konnte einen Gänsebraten zubereiten. Laut ihrer Schwester Lotte spielte er zwar ständig den Lehrer, war aber kein verknöcherter Patriarch.

Das Buch bestätigt, dass sich der patriarchale Charakter klassenübergreifender Liebesbeziehungen in der Weimarer Zeit vermindern konnte, weil sich eine radikaldemokratische Perspektive zu eröffnen schien. Die nach Emanzipation strebende Frau kam nicht nur aus dem Bürgertum. Proletarischen Mädchen mit Hunger nach Bildung, Ästhetik und persönlicher Unabhängigkeit bot die Weimarer Republik Entfaltungsmöglichkeiten. Die Faszination, die Änne auf den Bürgersprössling Schmincke ausübte, ist vergleichbar mit der Bertolt Brechts für Margarete Steffin. Oder mit der Faszination, die der Chefredakteur des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, seiner Sekretärin Ilse Stöbe entgegenbrachte. Wolff setzte ihr in seinem gerade bei Weidle neu aufgelegten Exilroman Die Schwimmerin ein großartiges Denkmal. Auch er engagierte sich für Bildung und Qualifikation der geschätzten jungen Frau. Und obwohl er kein Kommunist war, vermied er es, Ilse das Klassenbewusstsein auszutreiben. Diese Herren verstanden, dass es wichtig war für die Umkrempelung der Welt.

Info

Rotes Erbe: Auf der Suche nach Richard Schmincke, meinem Vater Ricarda Bethke Vergangenheitsverlag 2021, 300 S., 20 €

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