Ist Historisieren ein Freisprechen von Schuld?

Über den geschichtlichen Vergleich Man sollte bei einem Völkermord, wie er vom Irak-Embargo bisher verursacht wurde, auch an andere Völkermorde erinnern dürfen

Linke, auch wenn sie radikaldemokratisch argumentieren, müssen es sich oft gefallen lassen, des Stalinismus verdächtigt zu werden oder gleich des Totalitarismus, womit sie dann automatisch auch mit Hitler in einem Sack stecken. Dass in der alten und in der vergrößerten Bundesrepublik weniger von "deutschem Faschismus" (DDR-Sprache), sondern eher vom "Nationalsozialismus" die Rede ist, weist in dieselbe Richtung: Sozialismus und Nationalsozialismus gehören laut hiesiger political correctness in denselben Topf. Wer in die Nähe eines dieser beiden Phänomene oder ihres gemeinsamen Nenners - des Totalitarismus - gerückt wird, dem wird dann auch schnell unterstellt, Gulag und Auschwitz zur Durchsetzung seiner Auffassungen wenigstens zu billigen.

Linke müssen mit dieser Art "Historisierung" leben. Werden aber Rechte mit historischen Parallelen aus dem Dunstkreis des Faschismus/Nationalsozialismus belegt - man denke an Däubler-Gmelin contra Bush - geht ein medialer Aufschrei durch die Republik. Dann wird plötzlich die Singularität von Auschwitz beschworen und vorsorglich die prinzipielle Unmöglichkeit von historischen Parallelen behauptet oder gar "bewiesen". Und je mehr das aktuelle Szenario der Massenarbeitslosigkeit und des staatlichen Deflationskurses den Zuständen in der Weimarer Republik ähnelt, wird auch diese prompt zur unvergleichbaren Singularität erklärt. Mittels dieser zweckgerichteten Methode werden natürlich auch Bushs Weltherrschaftspläne singularisiert und als etwas Unvergleichbares hingestellt. Warum aber soll man den längst mit dem Irak-Embargo eingeleiteten Völkermord nicht vergleichen mit anderen Völkermorden, auch wenn seine zahlenmäßige Bilanz vielleicht bescheidener als die anderer Genozide ausfällt? Warum soll man die Feldzüge Hitlers nicht mit denen der Mongolen vergleichen? Die Pläne von Milos?evic´ zu ethnischen Säuberungen mit denen von Sharon? Natürlich gibt es auch Vergleichsmöglichkeiten von weniger Schrecklichem. Ein systematisches Studium des alten Rom bietet ein fast vollständiges Schulungsarsenal über Techniken des Volksbetrugs sowohl unter republikanischen als auch unter monarchistischen Bedingungen, über monetäre Tricks bei Inflation oder Geldknappheit, über multikulturelles Management von Vielvölkergesellschaften und vieles mehr.

Dass in Deutschland nicht nur das Dichten, sondern auch das historische Vergleichen nach Auschwitz unmöglich geworden zu sein scheint, ist Ausdruck einer zweckgerichteten methodischen Selbstbeschneidung, die vorgibt, dass der historische Vergleich angeblich Entschuldung bedeutet. Mitnichten. Der Vergleich von Genoziden oder ethnischen Säuberungen beinhaltet keineswegs automatisch das Freisprechen oder auch nur Verkleinern von Schuld. Er ist die unabdingbare Voraussetzung, um den komplexen Ursachen von Genoziden auf die Spur zu kommen. Und er ist Voraussetzung dafür, die Opfer von Genoziden oder Massenmorden prinzipiell als gleich anzuerkennen. Ein solches Denken lag den Genfer Konventionen von 1864 und 1929 zugrunde, die freilich nur unter westlichen Nationen eine gewisse Geltung erlangten. In ihren Kolonien haben dieselben Nationen sie nie zur Anwendung gebracht. Hitler hat sie während des Zweiten Weltkrieges in Westeuropa zunächst respektiert, in Polen und Russland vom ersten Kriegstag an generell und bewusst außer Kraft gesetzt. Der von England und den USA dann gegen Deutschland geführte Bombenkrieg brachte die ganze Denkkonstruktion endgültig zu Fall.

Mir scheint es kein Zufall, dass die heute Mächtigen den historischen Vergleich zu fürchten scheinen. Denn längst machen sich wieder Urteile breit, nach denen manche Opfer mehr, andere weniger "Mitschuld" an ihrer bereits erfolgten oder erst noch geplanten Beseitigung tragen. Zusätzlich wird versucht, den "enthistorisierten" Ereignissen durch Moralisierung beizukommen - und damit die Jugend erst gar nicht in die Versuchung des historischen Vergleichs gerät, das Fach "Geschichte" zusehends marginalisiert. In manchen Schulen wird außerdem der Feudalismus nicht mehr länderspezifisch dargestellt, sondern ist zu einer essentialistischen Pyramide von hierarchischen Ständen geschrumpft. So entsteht der Eindruck, Feudalismus sei im Prinzip in Deutschland, Frankreich und Japan gleich gewesen. An den Schulen wird so die historische und soziologische Differenzierung durch Moralisierung und political correctness ersetzt. Das mag funktionieren, solange sich die Gesellschaft im Aufwind befindet. Bei ernsthaften Anfechtungen zeigt sich aber, dass es ohne Verstehen auch keine Moral gibt. Und eine nur mit moralischen Imperativen begründete Identität wird sich in schwierigen Situationen stets als viel fragiler erweisen als eine, die sich auch ihrer historischen Tradition bewusst ist. Schließlich verkommt das Gedenken an ein "enthistorisiertes" Auschwitz zum moralisierenden Ritual, das - entgegen der Intention - kein Lernen für Gegenwart und Zukunft ermöglicht.

Um nicht ganz vom Plateau der Mediengesellschaft gedrängt zu werden, schreckt auch die Linke vor dem Historisieren und Parallelisieren meistens zurück. Dafür waren schon die Konstellationen des Historikerstreits ein beredtes Zeichen. Mit der Preisgabe der Geschichte als lebendiges Erfahrungsarsenal der Menschheit berauben sich Linke aber ihres eigenen Mobils - des Kampfes um Gleichheit und Universalität. Initiative in dieser Hinsicht kann nur zurückgewonnen werden, wenn sich die Linke methodisch zumindest wieder dem alten bürgerlichen Historismus annähert. Dieser hatte erkannt, dass der Schlagabtausch der verschiedenen Parteien zwar um Essenzen - sprich: um Werte - geführt wird, die aber, um geschichtlich tragfähig zu werden, genauer soziologischer Beschreibung bedürfen. Das Verständnis von "Armut" kann nicht mit dem Furor der Empörung und der Formel "Kampf gegen die Armut" erlangt werden, sondern erst durch einen Vergleich ihrer historischen und aktuellen Formen.

Natürlich wird das Parallelisieren - etwa von Terrorakten - erst durch die Ausdifferenzierung der Unterschiede legitim und fruchtbar, doch dafür verfügen heute alle Völkerschaften der Erde über genügend Spezialisten. Sie müssen nur zusammengebracht und öffentlich in Disput gesetzt werden. Im klassischen Dreischritt des Historismus entspräche das Differenzieren der Recherche. Dann müsste eine kritische Durchsicht des Materials (gebunden an den Maßstab der Gleichheit) vorgenommen werden, schließlich wären Folgerungen zu ziehen und umzusetzen. Nur so könnte ein einheitliches Völkerrecht als gleiches Recht für alle entstehen. Und da wir nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter und potentielle Täter gleichgestellt werden müssen, käme es dann eben auch darauf an, dass im Nahen Osten eine generelle Abrüstung aller Arsenale der Massenvernichtung - auch der israelischen - gefordert werden müsste.

So bewusst die Rechte in Vergangenheit und Gegenwart das Volk mit Essenzen anspricht - ein Ausdruck davon ist das Moralisieren - so ist es doch kein Zufall, dass rechte Politiker in ihrer Freizeit vorwiegend historische Literatur lesen. Franz-Josef Strauss tat es, Kohl tut es, bei Chirac ist es nicht anders. Die Herren verfolgen damit kein anderes Ziel, als aus den Parallelisierungen zu lernen, allerdings ohne dieses Lernen an die große Glocke zu hängen, denn Geschichtswissen ist auch Herrschaftswissen, Voraussetzung für Geschichtsmächtigkeit. Die Institution der Kirche ist das beredteste Beispiel für die Macht von Geschichtlichkeit. Wer eine Kirche betritt, kann sich dem Bewusstsein nicht entziehen, dass in diesem Bau die Erfahrung vieler Generationen von Gläubigen und vieler Generationen von Kirchenpolitikern kondensiert. Freilich besteht die Macht der Kirche gerade darin, dass die Einzelheiten ihrer langen Geschichte den allerwenigsten bekannt sind. Wenn also die Linke Geschichtsmächtigkeit erlangen will, muss sie - im umgekehrten Sinne - wieder lernen, sich der Geschichte zu bedienen.

Dass sich Oskar Lafontaine und Herta Däubler-Gmelin auf das riskante Terrain des historischen Vergleichs begeben haben, könnte auf eine Wende hindeuten. Zu hoffen bleibt, dass sie selbst und andere sich nicht durch die Prügel entmutigen lassen, die sie dafür einstecken mussten. Qualifizierter als das, was sich Roland Koch mit dem Vergleich zwischen Milliardären und den Trägern des faschistischen Judensterns geleistet hat, waren ihre Einlassungen allemal.

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