Kampfplatz der Mehrheiten

Zwangsmilitarisierung Andreas Wehr hat die Arbeit des europäischen Verfassungskonvents analysiert

Die Idee eines friedlichen und geeinten Europa hat Wurzeln in allen politischen Lagern. Linke können zumindest in Anspruch nehmen, dass sie weder an den Kriegen noch am tradierten Armutsgefälle innerhalb Europas schuld sind. Ob ihr Konzept eines Verbundes von Nationalstaaten mit relativ eigenständigem inneren Markt tragfähiger ist, wird man erst wirklich beurteilen können, wenn einige Erfahrungen mit dem jetzt realisierten, nach innen grenzenlosen, bald weitgehend mit einer einzigen Währung ausgestatteten Europa gemacht sind. Da die nun entstehende Europäische Union wesentlich mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freizügigkeit bieten soll, erscheint sie auch vielen Linken sympathisch. Aber es ist vorhersehbar, dass in erster Linie die ökonomisch Starken als Investoren und Manager sowie junge Leute ohne Familienanhang als mobile Arbeitskräfte profitieren können. Für einen Großteil der EU-Bürger werden Bildung und Verkehrsmittel zu teuer sein, um Vorteile aus der Freizügigkeit zu ziehen.

Auch was die bislang angepeilten rechtsstaatlichen und demokratischen Perspektiven betrifft, ist die Unkenntnis in linken Kreisen groß. Diesem Informationsdefizit begegnet ein Buch mit dem provokanten Titel Europa ohne Demokratie? Der Autor, Andreas Wehr, hat als wissenschaftlicher Mitarbeiter der PDS-Abgeordneten und somit auch der "Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke", der Linksfraktion im Europaparlament, die Arbeit des Verfassungskonvents kritisch beobachtet.

Für Wehr hatte der Prozess nichts vom Glorienschein einer Verfassunggebenden Versammlung, denn er fand nicht auf der Ebene des EU-Parlaments statt. Im Konvent vertreten war jeweils nur ein Repräsentant der nationalen Regierungen und zwei aus den nationalen Parlamenten plus 16 Europaabgeordnete und zwei Vertreter der Kommission. Daraus ergab sich, dass der Konvent von vornherein ein Instrument konservativer und sozialdemokratischer Regierungsmehrheiten sowie einiger Liberaler war. Linke, rechte oder auch regionalistische Europakritiker fehlten fast ganz, obwohl sie etwa über ein Drittel der Wählerstimmen verfügen.

Von 105 Konventsmitgliedern waren 83 Prozent Männer, im zwölfköpfigen Präsidium saß nur eine Frau. Das als künftige Verfassung eines demokratischen Europa gepriesene Ergebnis war in der Realität ein Dokument, das durch den angestrebten Umbau der Institutionen die Position der jetzigen europäischen Großmächte erhalten sollte. Die EU-Gremien - zum Beispiel die Kommission - sollen so zentralisiert und verkleinert werden, dass nicht einmal jeder Staat vertreten ist. Der Kommissionspräsident dagegen wird gestärkt. Das Parlament darf ihn zwar wählen, vorschlagen kann ihn jedoch nur der Europäische Rat, also die Versammlung der Regierungschefs.

Aus rechtsstaatlicher Sicht problematisch ist für Wehr auch die Projektion eines zunehmend zentralisierten europäischen Innenministeriums. Geplant sind die Bildung einer europäischen Staatsanwaltschaft und die gegenseitige Anerkennung von Justizentscheidungen ohne jegliche Überprüfung, obwohl die dafür notwendige Voraussetzung nicht absehbar ist: die demokratisch abgesicherte Vereinheitlichung der Gesetzeswerke.

Der Diskussion um den Verfassungstext war ein striktes Zeitlimit von vier Monaten gesetzt. Deshalb konnten von dem 342 Artikel umfassenden dritten Teil des Entwurfs nur Abschnitte der Innen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik beraten werden. Diese stellen - aus linker Sicht - das größte Skandalon dar. Um den angeblich unausweichlich steigenden terroristischen Gefahren der Zukunft zu begegnen, wird den Mitgliedsländern die schrittweise Erhöhung ihrer Militärpotenz vorgeschrieben, koordiniert und überwacht von einem europäischen "Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten". Diese gegen den offensichtlichen Willen der Bürger losgetretene Zwangsmilitarisierung soll zum einzigen Posten der nationalen Haushalte erklärt werden, für den aufgenommene Schulden nicht als Verletzung des Stabilitätspakts gelten.

Der großzügigen Planung des Militärischen steht eine Politik des stetig zu verschlankenden Sozialstaats gegenüber. Da in Brüssel nicht etwa die Gewerkschaften, sondern Industrielobbies Einfluss auf die EU-Instanzen nehmen, wundert es den Betrachter dieses Einigungsprozesses nicht, dass die Privatisierung der Ausbildung und der Daseinsvorsorge sowie die Deregulierung des gesamten Arbeitsmarkts zu Verfassungszielen erklärt worden sind. Als ob die Erfahrung nicht bereits Gegenteiliges zeigt, wird das weiterhin als Weg zur Vollbeschäftigung gepriesen. Tatsächlich stellt die Neudefinition dieses Begriffs den Gipfel der Demagogie dar. Danach soll künftig jede Arbeit zu jeder Bedingung zumutbar sein, die Statistik jeden als arbeitend registrieren, wenn er zwei Stunden pro Woche arbeitet. Eliminiert ist die Vorstellung, dass Arbeit eine Würde haben und existenzsichernd sein sollte.

Die PDS gehörte unter den europäischen Linksparteien zu den wenigen Ausnahmen, die dem Verfassungsentwurf gewogen waren. Nur Hans Modrow, der das Vorwort des Buches schrieb, gehörte zu dem Teil der Fraktion in Brüssel, der dafür kämpfte, dass die Partei sich schließlich doch noch zur Ablehnung durchrang. Um den Entwurf konstruktiv zu verändern, ist eine enorme Mobilisierung der EU-Bürgerschaft erforderlich. Sie wäre am ehesten zu erreichen, wenn man an die offensichtlichen Tatsache anknüpft, dass sich die gegenwärtigen Militäreinsätze europäischer Truppen keineswegs als Friedenseinsätze entpuppt haben. Sie waren schlichte Nachhut amerikanischer Einsätze, deren Ziele nicht erreicht wurden und die von vornherein nicht mit den Vorstellungen der Mehrheit der Europäer für eine Weltfriedensordnung übereinstimmten.

Wehr erinnert an die unbekannte Tatsache, dass schon vor der Osterweiterung der Entwicklungsabstand zwischen armen und reichen Regionen der EU größer war als in den USA. Die Fonds für Strukturausgleich seien viel zu gering bemessen. Die zehn neuen Länder werden in den nächsten Jahren zusammen weniger Hilfen bekommen als die ostdeutschen Länder im internen bundesdeutschen Ausgleich.

Um Brüssel an einem noch brutaleren Sozialabbau zu hindern, muss das Engagement der Bürger vervielfacht werden. Längst fühlen sich nicht mehr nur bestimmte Personengruppen um ihre Lebenschancen betrogen. Auch in den Kommunen wächst der Unmut über Brüsseler Diktate. Wehr ist zuzustimmen darin, dass die EU sich "aus einem Projekt der kapitalistischen Wirtschaftseliten" zu einem "Kampfplatz" der "Mehrheit der sozial Abhängigen entwickeln" muss. Sie müssen "die ihnen auf nationalstaatlicher Ebene genommenen sozialen, kulturellen und politischen Rechte wieder erlangen" und dafür sorgen, dass sie in einer grundsätzlich veränderten EU "auf einer höheren Stufe weiterentwickelt" werden.

Andreas Wehr: Europa ohne Demokratie? Die europäische Verfassungsdebatte - Bilanz, Kritik und Alternativen, Papyrossa, Köln 2004, 156 S., 12,90 EUR


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