Kein Entenschießen mehr

Aufstand im Irak gegen die Besatzer Wir erleben einen Volkskrieg

Wer hätte, als die Besatzungstruppen vor einem Jahr den Irak zuletzt fast widerstandslos einnahmen, das Szenario zu prophezeien vermocht, das sich heute der erstaunten westlichen Fernsehwelt bietet? Die Formel: "Ich bringe dir meine Demokratie, und du gibst mir dein Öl" ging nicht auf. Seit auch die Schiiten zu den Waffen greifen und ganze Städte unter ihre Kontrolle bringen, kann man nicht mehr nur von versprengten Saddam-Anhängern oder infiltrierten Al Qaida-Aktivisten sprechen, die hinter diesem Aufstand stehen.

Es handelt sich um einen Volkskrieg gegen die Besatzer. Er findet nicht als offene Feldschlacht statt, wie sich das Bush und Powell im Vorjahr als Finale des Irak-Krieges gewünscht hatten. "Entenschießen" wurde seinerzeit die Extermination flüchtender irakischer Soldaten genannt. Jetzt haben es die Besatzer mit einem flexiblen, asymmetrischen Kampf zu tun. Obwohl sie nicht nur auf militärischem Gebiet eine tausendfach überlegene Technologie besitzen, sondern per Selbstdefinition auch in der Lage sein müssten, den gesamten Telefon- und Mail-Verkehr zu überwachen, sind sie dieser Form des Krieges kaum gewachsen. Sie bestimmen weder Ort noch Zeit der Gefechte und Scharmützel. Damit ähnelt dieser Volkskrieg in erschreckender Weise dem Kampf der Palästinenser gegen die israelische Besatzung im Gaza-Streifen und Westjordanland.

Jawohl, wie der Krieg der Palästinenser ist auch der Krieg der technologisch unterlegenen Iraker hinterhältig und grausam. Er trifft oft die Falschen: Mitglieder humanitärer Organisationen, Journalisten oder einen sympathischen Soldaten aus dem amerikanischen Mittelwesten, der womöglich mit der Auffassung in den Krieg gezogen ist, den Irakern helfen zu wollen. Ein Guerillakrieg gegen unerwünschte Eindringlinge würde überall in der Welt ähnlich geführt. Das hat nichts mit dem "Islam" zu tun. Wie nicht anders zu erwarten, sind die technologisch hoffnungslos Unterlegenen in ihren Kampfmitteln nicht wählerisch.

Da den europäischen Völkern derzeit weisgemacht werden soll, dass es für sie von Vorteil sei, ihre über Jahrhunderte erkämpfte Souveränität an eine kapitalhörige Technokratie in Brüssel abzutreten, ist das mediale Rätselraten groß, weshalb wohl andere Länder so unzeitgemäß noch immer auf ihre Souveränität pochen. In der Tat finden es Menschen in anderen Weltteilen nach wie vor wichtig, dass Entscheidungen über ihre Ressourcen und Sozialsysteme vor Ort getroffen werden. Wenn möglich transparenter als bisher. Keinesfalls aber von fremden Mächten.

Weder überlegene Militärtechnik, noch das Zuckerbrot namens "Demokratieimport" haben den Irak-Krieg in die Richtung gelenkt, die sich seine Urheber wünschten. Es ist daher höchste Zeit, dass die internationale Öffentlichkeit vehementer als bisher darauf drängt, ihn zu beenden. Deutschland und Frankreich stehen in der Pflicht, dafür sofort alle Hebel der offiziellen wie geheimen Diplomatie in Bewegung zu setzen. Da die wirklichen Kriegsgründe zwar bekannt, aber äußerst peinlich sind, dürfte es nicht einfach sein, Mittel und Wege zu finden, damit die USA und ihre willigen Koalitionäre ohne katastrophalen Gesichtsverlust den Irak räumen können. Im Unterschied zu vielen vorherigen Konflikten wurde der Krieg vor einem Jahr durch die völlige Delegitimierung der feindlichen Führung vorbereitet. Diese, auch von Israel gegenüber den Palästinensern angewandte Taktik ist deshalb kreuzgefährlich, weil sie Verhandlungen ausschließt. Wer meint, dem Frieden durch Delegitimation oder gar Liquidation der Führung des Gegners näher zu kommen, frönt einem realitätsfernen technizistischen Überlegenheitswahn. Insofern erscheint es auch höchst zweifelhaft, ob eine von der US-Besatzung eingesetzte Übergangsregierung genügend Autorität besitzt, den Irak in "freie Wahlen" zu führen.

Dass eine Mehrheit der Europäer den Irak-Krieg stets ablehnte, beruhte weniger auf der Überzeugung vom völkerrechtlichen Grundwert der Souveränität. Weil sie - anders als die USA - auf derselben Landmasse wie die Muslime leben, wussten die Europäer, dass im Zeitalter einer rasant wachsenden Massenkommunikation ein solcher Konflikt nicht mehr beherrschbar ist. Ob die Europäer den Islam nun für sympathisch oder unsympathisch, gefährlich oder ungefährlich halten - sie sehen darin, anders als die Amerikaner, eine große und mächtige Kultur, die man nicht zerstören kann, sondern respektieren muss. Respekt ist jedoch nur möglich, wenn die pauschalisierten Bilder überwunden werden, die auch hiesige Medien verbreiten. In dieser Pauschalisierung geht unter, dass vor mehr als einem halben Jahrhundert im Irak Muslime, Juden und Christen gemeinsam gegen die englische Mandatsmacht kämpften und sowohl Unabhängigkeit wie auch Säkularität für unabdingbare Attribute ihres künftigen Staates hielten. Es geht auch unter, dass der Nahe Osten heute in der aus dem Scheichtum Quatar sendenden unabhängigen Fernsehstation al-Djasira ein weltweites Kommunikationszentrum besitzt, das nicht durch islamistische Parolen, sondern durch demokratisch orientierte, professionelle Information die mediale Vorherrschaft des Westens über die Muslime gebrochen hat. Etwas Vergleichbares haben die sozialistischen Länder in Osteuropa nie zustande gebracht. Al-Djasira bietet Sendezeiten, in denen Menschen aus dem besetzten Irak, Saudi Arabien oder den USA anrufen und ihre Meinung frei kundtun. Eine Moderatorin ohne Kopftuch weist die Anrufer nur in die Schranken, wenn sie sich in ihrem Ärger, etwa über Israel, zu rassistischen Ausfällen hinreißen lassen. Ein Sender, der alle Voraussetzungen erfüllt, um im Vorfeld dringlicher Friedensverhandlungen im Irak und in Palästina die Rolle des Vermittlers zu spielen.


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