Kein Magier mit Maschinenpistole

Frantz Fanon Er betrachtete Gewalt als Folge einer Situation, in der Ungerechtigkeit nicht mehr verhandelbar erscheint

Er war einer der letzten großen Vertreter der Soziopsychologie. Sein Buch Die Verdammten dieser Erde - das später weltberühmte Hauptwerk des Autors - konnte der an Leukämie leidende Fanon noch kurz vor seinem Tod am 6. Dezember 1961 in den Händen halten. Der 36-Jährige starb, von der CIA bestens bewacht, vor 40 Jahren in einer New Yorker Klinik. Das Vorwort Jean-Paul Sartres zu den Verdammten vermochte wohl zum Welterfolg des Titels beizutragen, verstärkte andererseits aber auch das Missverständnis, Fanon habe in der politischen Gewalt einen Schlüssel zur Lösung politischer Konflikte gesehen.

In Wirklichkeit wollte der Autor beweisen, dass die Befreiung Algeriens von der französischen Kolonialmacht nur durch einen gewaltsamen Befreiungskrieg möglich war. Frankreich - das Musterland der Demokratie - hatte auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht im mindesten daran gedacht, den algerischen Muslimen ein Minimum an Bildung zukommen zu lassen (1945 durfte jede algerische Schulklasse lediglich zehn Prozent Mulisme aufnehmen - das Verhältnis zwischen muslimischer und französischer Bevölkerung lag aber bei zehn zu eins). Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hatte es religiöse Gruppen um Ibn Ben Badis (*) gegeben, die den Islam modernisieren und dem laizistischen System anpassen wollten. Seit den zwanziger Jahren existierten zudem Parteien und Gewerkschaften, die den Muslimen Anerkennung im demokratischen System verschaffen wollten. Aber diese Organisationen wurden in Paris nie als Verhandlungspartner anerkannt, statt dessen kriminalisiert. Ihre Führer verbrachten einen Großteil ihres Lebens im Gefängnis.

Fanon sah in diesen gravierenden politischen und ökonomischen Benachteiligungen eine strukturelle Gewalt der Kolonialmacht, die bei den Kolonisierten Minderwertigkeitskomplexe gegenüber der eigenen Kultur erzeugte. Da sich die Nicht-Anerkennung verewigte, schien nur Gewalt eine Lösung, die tatsächlich durch das Individuum, aber auch die Gesellschaft der Kolonisierten insgesamt als Akt der Befreiung erlebt werden konnte.

Frantz Fanon - ein Wahlafrikaner

1925 - in Fort-de-France, der Hauptstadt der Antilleninsel Martinique, wird Frantz Fanon am 25. Juli 1925 geboren.
1946/1952 - Fanon studiert Medizin und schreibt zugleich sein erstes Buch Schwarze Haut und Weiße Masken.
1955/56 - als Chefarzt der psychiatrischen Klinik von Blida wird Fanon mit den Grausamkeiten des algerischen Kolonialkrieges konfrontiert, er sympathisiert bereits mit der Nationalen Befreiungsfront (FLN) und versucht, sich den Gräueltaten der Kolonialarmee und französischer Siedler entgegen zu stellen.
1957/58 - Fanon schließt sich endgültig der FLN an, die ihn mit der Vertretung des algerischen Volkes auf der "Ersten Konferenz der Afrikanischen Völker" in Ghana beauftragt.
1959 - das zweite Buch Fanons Das Jahr Fünf der algerischen Revolution liefert eine vorzügliche Analyse der nordafrikanischen Unabhängigkeitsbewegung.
1961 - am 6. Dezember, dem Tag, da in Paris sein Buch Die Verdammten dieser Erde erscheint, stirbt Fanon in New York.

Als Leiter der psychiatrischen Klinik von Blida bei Algier hatte Fanon seinerzeit auch psychisch gestörte Folterer aus der französischen Kolonialarmee zu behandeln, die ihre Gewalttaten keineswegs als Befreiung erlebten. Diese Arbeit an gegensätzlichen Psychopathologien brachte ihn zu der Erkenntnis, dass die auf extremer Ungleichheit basierende koloniale Situation nicht nur für die Kolonisierten, sondern auch die Kolonisatoren untragbar sei. Sie beeinflusste auch seine Entscheidung, sich dem Befreiungskampf der FLN (Front de la Libération Nationale) anzuschließen.

"Ich habe mich getäuscht", schrieb er seinen Eltern. Die Republik war nicht das, wofür er sie gehalten hatte

Aus seiner Biographie und seinem Gesamtwerk wird ersichtlich, dass er kein Apologet der Gewalt war, sondern vielmehr bemüht, Gewaltursachen zu erkennen, damit eine gewaltfreie Welt entstehen kann. Einem demnächst in Deutschland erscheinenden Fanon-Porträt seiner Mitarbeiterin Alice Cherki sind aussagekräftige Details der Jugend in Martinique zu entnehmen. Weil es hier nur wenige Weiße gab, die isoliert von der schwarzen Mehrheit lebten, erschienen die Probleme des Rassismus verhaltener.

Der aus der Mittelklasse stammende Fanon profitierte von französischer Schulbildung und glaubte an die Werte der Republik. Als Hitler diese Werte auf dem europäischen Kontinent vernichten wollte, wies er die Meinung zurück, dass der Kampf unter Weißen für die Schwarzen gut sei. Er sah vielmehr bei Hitler den Versuch, das weltweit im Rückzug befindliche rassistische Paradigma wieder zu stärken. So meldete er sich freiwillig zum Kriegseinsatz in der französischen Armee. In Marokko, später im Elsass, erlebte er jedoch, dass den aus afrikanischen wie maghrebinischen Ländern stammenden Soldaten keineswegs die gleichen Rechte eingeräumt wurden wie den weißen Franzosen. "Ich habe mich getäuscht", schrieb er seinen Eltern. Die Republik war nicht das, wofür er sie gehalten hatte. Doch gerade deshalb wurde er zum entschiedenen Streiter für ihre Vollendung.

Ab 1956 dann richtete Fanon in Tunesien psychiatrische Stationen für Hunderttausende algerischer Flüchtlinge ein. Außerdem war er Redakteur beim Moudjahid, der Zeitung der algerischen Exilregierung, der er offiziell nicht angehörte, die ihn jedoch als Autorität respektierte. Schon Jahre vor der 1962 errungenen Unabhängigkeit erkannte er, dass die Colonels, darunter der spätere algerische Präsident Houari Boumediène, Algerien nicht zur Demokratie führen wollten. Fanon war gegen das Einparteiensystem der FLN und begriff vor allem, dass die an die Macht kommende nationale Bourgeoisie vom Westen korrumpiert war und ihr Land in neokolonialer Abhängigkeit beließ. Und dass damit noch einmal eine Ära der Ungerechtigkeit, wohl auch der Gewalt, heraufbeschworen wurde. Für Fanon galt dabei politische Gewalt als Folge einer Situation, in der Ungerechtigkeit zementiert und als nicht mehr verhandelbar erschien.

Wichtig ist in diesem Kontext auch sein historischer Kulturbegriff. So sehr er davon überzeugt war, dass nicht nur der psychisch Kranke, sondern auch die unterdrückten Völker durch Wiederaneignung ihrer Kultur Selbstbewusstsein erlangen, so entschieden verurteilte er alle statischen Konzepte traditioneller Kulturen. Fälschlicherweise beruft sich heute die im Iran und auch im Westen verbreitete Ethno-Psychiatrie auf Fanon, wenn sie den "Entkolonisierten" wie auch den Immigranten in Europa durch eine ghettoartige Rekonstruktion ihrer traditionellen Kultur und Religion helfen will. (Die Ethno-Psychiatrie kann gewissermaßen als Schwester des islamischen Fundamentalismus gesehen werden.) Denn der Rückfall auf eine kulturelle Stufe der Vergangenheit führt nach Fanon nur zur "Versteinerung". Zwar befürwortet er ausdrücklich eine Anerkennung der Würde von traditioneller und Alltagskultur als Ausgangspunkt jeder Verständigung. Eine Konfliktlösung ist für ihn aber nur durch Einbeziehung der Marginalisierten in die allgemeine Entwicklung denkbar - durch ein Ende von Ausgrenzung. Er denkt an eine "Weltrepublik von Gleichberechtigten".

Eine Besinnung auf Fanon könnte viel dazu beitragen, einen Teil der komplexen Ursachen des 11. September zu verstehen

Im Westen hatte es in den sechziger Jahren verschiedene, die Gewalt als politisches Instrument rechtfertigende Fanon-Rezeptionen gegeben, beispielsweise durch die Black Panther in den USA. Später - in den achtziger Jahren - gab es eine Adaption der psychosozialen Lehren Fanons durch Gruppen um die New Alliance Party (NAP), die für eine Gleichberechtigung von Farbigen, Frauen und Homosexuellen in der US-Gesellschaft eintrat. Die NAP-Vorsitzende Eleonora Fulani - sie kandidierte 1988 für die Präsidentschaft - wurde zur Vorreiterin eines "demokratisch gelesenen" Fanon.

Nachfolgeorganisationen der NAP wollten zum 40. Todestag von Fanon einen Internationalen Kongress in Manhattan organisieren. Das französische Kulturinstitut und das US-Kulturministerium hatten angekündigt, das Projekt zu unterstützen. Doch dann kam der 11. September - und wenig später stellte William Plaesent, der Organisator der Tagung, einen ergreifenden Augenzeugenbericht über das Attentat auf das World Trade Center ins Internet (www.liberator2000.com). Das Kongress-Projekt blieb unter den Trümmern des WTC begraben. Die Besinnung auf Fanon könnte viel dazu beitragen, einen Teil der komplexen Ursachen dieses furchtbaren Ereignisses zu verstehen.

(*) Islamischer Geistlicher in Constantin, der sich in den zwanziger Jahren für einen modernen Islam in einem laizistischen System einsetzte.

Literatur: Eleonora Fulani: The Psychopathology of Everyday. Racism and Sexism, New York, London 1987 / Alice Cherki: Frantz Fanon. Ein Porträt, Nautilus 2002 / David Macay: Frantz Fanon. A Biography. New York, 2001.

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