Das schon oft behandelte Thema ›Goethe und die Frauen‹ fehlt im jetzigen Goethejahr nicht. Und zum Glück gibt es da ein Buch, das neue Maßstäbe setzt: Christiane und Goethe von Sigrid Damm. Die Berliner Autorin hat noch einmal ganz von vorn recherchiert und die wohl bislang umfassendste Dokumentation dieser ungleichen Beziehung geliefert. Für mich ist sie vor allem deshalb faszinierend, weil sie das Thema scheinbar von ganz weit her angeht, nämlich vom heute altmodisch gewordenem soziologischen Interesse am Woher ihrer Protagonistin. Tief grub Sigrid Damm in Weimeraner Annalen nach Spuren der Familie Vulpius und entrollt ein erschütterndes Bild der damaligen Ständegesellschaft. Da ist die Dokumentation über die zehn Jahre dauernden Versuche von Christianes Vater, nach selbstfinanzierten entbehrungsreichen Studienjahren eine Anstellung in der Hofkanzelei zu bekommen. Daß in solchen Wartejahren die bescheidene Mitgift der Gattin verbraucht werden mußte, war damals üblich. Ebenso unsäglich wie die auch nach der Anstellung andauernde Armut, der frühe Tod vieler Kinder, aber auch der Ehefrau, ist die Entwürdigung, die er aufbringen mußte, um Arbeit oder eine Beförderung zu bekommen. »In ›tiefster Untertänigkeit‹ appelliert Vulpius an die ›Hochfürstliche Gnade, ihm Beförderung angedeihen zu lassen, ... ich habe mich nicht überwinden können, Cur. Herzogliche Durchlaucht nochmals in Unterthänigkeit und tiefster Erniedrigung mit gegenwärtigem aufzuwarten, und höchst flehentlich zu bitten, mich als ein Landes Kind gnädigst zu versorgen.‹« Infolge eines offenbar geringen, nicht mehr dokumentierbaren Amtsvergehens wird der fast Sechzigjährige entlassen und soll für ein Gnadenbrot im Wegebau arbeiten. Ob ihn der dafür zuständige Goethe tatsächlich herangezogen hat, ist unwahrscheinlich. Der Armut der Untertanen, die nur in allerletzter Not ein paar Taler von dafür zuständigen Ämtern erbetteln können, steht enormer Prunk und Vergnügungssucht des Hofes gegenüber. Das ärgerte Goethe, ohne, daß er daran etwas ändern konnte.
Die Hartnäckigkeit, die Sigrid Damm bei der Dokumentation der - wie Goethe sagte - Weimarer Armut und ihrer geringen Rechte entwickelt, entspringt wohl einem Gefühl dafür, daß heutige Vorgänge auf Sozialämtern und der geplante allgemeine Arbeitszwang uns zwar als ›modern‹ präsentiert werden, sich im Grunde aber nicht mehr von dem Prinzip unterscheiden, das die Ständegesellschaft ökonomisch ausbalancierte. Am faszinierendsten fand ich Dokumente, die in Hinblick auf das ›eigentliche‹ Thema eher sekundär zu sein scheinen, wie von Christiane veranlaßte und von Goethe geschriebene Entlassungszeugnisse für Bedienstete im Haus am Frauenplan. Für unbotmäßiges Dienstpersonal stand übrigens ein spezielles Gefängnis zur Verfügung, ein perfektes System von Aushungerung und Strafe, das die Subalternen erbarmungslos zwang, jedwede, - auch ihnen gar nicht liegende - Arbeit zu jedweder Bedingung anzunehmen.
Das von Sigrid Damm so ungewöhnlich breit dokumentierte Zeitpanorama ist nicht nur von sensiblem aktuellem Interesse. In Wirklichkeit steht es auch in engstem Zusammenhang mit ihrem Thema. Denn die Gewalt und die ungeheuere Spannung innerhalb der Ständegesellschaft ist in der Beziehung zwischen Christiane und Goethe selbst auszuhalten gewesen wie auch in den Positionen gespiegelt, die die skandalisierte Weimarer Umwelt zu der ungehörigen Liaison einnahm. Durch die Bildung und die potentiellen Möglichkeiten des Vaters gehörte die Familie der 1765 geborenen Christiane nominell keineswegs den alleruntersten Ständen an. Die Aufnahme einer Berufstätigkeit war für ein Mädchen ihrer Schicht eigentlich unüblich. Aber um das Gnadenbrot des Vaters aufzubessern, arbeitete sie Anfang der achtziger Jahre in einer Putzmacherinnenwerkstatt. Und wegen eines Bittgesuchs für ihren von ähnlicher Armut wie der Vater geplagten, schriftstellernden Bruder Christian August - später Verfasser von Reinecke Fuchs - wird die Dreiundzwanzigjährige im Sommer 1788 um eine Audienz beim achtunddreißigjährigen Goethe bitten. Zwar spricht es Sigrid Damm - hier im Einklang mit anderen BiographInnen - nicht aus. Aber hinter diesem Opfergang steckte wohl nichts anderes als die Entscheidung einer verzweifelten Familie, als letzte Rettung den Ehrverlust der Tochter in Kauf zu nehmen. Christiane und Goethe werden den 12. Juli 1788 stets als ihren Hochzeitstag feiern, obgleich die legale Verehelichung erst achtzehn Jahre später vollzogen wird.
Daß es überhaupt zu dieser merkwürdigen Verbindung kommt, ist bestimmten biografischen Konstellationen bei Goethe geschuldet. Die Wissenschaft ist sich uneins, ob er vor seiner damals eben beendeten Italienreise überhaupt sexuelle Beziehungen zu Frauen hatte. Sigrid Damm gehört der Fraktion an, die meint, daß er keine hatte. Obwohl eher der anderen zugeneigt, scheint mir, daß das - ebenfalls glänzend dokumentierte - Todesurteil, das er 1783 gegen eine Kindesmörderin unterschrieben hat, unter der Voraussetzung sexueller Abstinenz plausibler erklärbar ist, zumal der Herzog selbst dagegen war und sich nur der durch Goethes Haltung zustandegekommenen Mehrheit seines Consiliums fügte. Der sinnenfrohe Carl August neigte in diesen Fragen aufgeklärten Positionen zu. Die öffentliche Hinrichtung der Gertraude Schmidtin muß indes die Imperative der Ständegesellschaft auch in diesem Punkte noch einmal verfestigt haben: Während die unteren Klassen auf absolute sexuelle Disziplin verwiesen wurden (Christianes Vater mußte wegen einer vor seiner zweiten Eheschließung sichtbar gewordenen Schwangerschaft ein Bußgeld zahlen), konnten sich die Herrschenden die Freude ehelicher und unehelicher Nachkommenschaft offen leisten. Carl August wird unter anderem mit seiner aus derselben Straße wie Christane stammenden Mätresse, der Hofschauspielerin Caroline Jagemann, mehrere Kinder haben. Auch gegen ein Verhältnis Goethes mit einer Frau aus den niederen Ständen hätte niemand etwas eingewendet, wenn er denn die damals üblichen Arrangements getroffen hätte, zum Beispiel die Einrichtung einer Wohnung für Christiane. Daß er sie in seine eigene Wohnung aufnahm und ihr dort die Pflichten und mehr und mehr auch die Rechte einer Ehefrau antrug, - das fand der männliche Teil der Schickeria abgeschmackt, das veranlaßte den weiblichen Teil zu bodenloser Eifersucht.
Die Statements der Jahrzehnte andauernden Empörung der Frau von Stein, des Ehepaars von Schiller und vieler anderer sind bekannt. Neu waren für mich die ekelhaften Absonderungen des als milder Humanist geltenden Herder, damals oberster Kirchenmann in Weimar. Freilich vollzieht er widerspruchslos die kleinen Schiebungen, die zur Neutralisierung der Registrierung des unehelich geborenen Sohnes August notwendig sind. Wahrscheinlich wegen eines damals nicht erkenn- und behandelbaren Rhesusfaktors sind alle weiteren Kinder Christanes und Goethes wenige Tage nach der Geburt gestorben. Trotz der Anfechtungen haben beide wohl etwa zehn recht sinnenfrohe Jahre verbracht. Schwierig wird die Situation für Christiane, als Goethe sich zur gemeinsamen Arbeit mit Schiller immer öfter nach Jena zurückzieht und auch wieder allein größere Reisen unternimmt. Ohne seinen Schutz in Weimar scheint ihre Situation schwierig gewesen zu sein. Entfernung und Erlebnis anderer Welten empfindet Goethe aber als unabdingbare Voraussetzungen seines Werks. Zunehmend braucht und genießt er auch die Bewunderung, die ihm die gebildete Welt Mitteleuropas entgegenbringt, auch und gerade Frauen. Er wird sich die dafür erforderliche Freiheit zu verschaffen suchen, indem er zunächst den Sohn, dann auch Christiane testamentarisch für den Fall absichert, daß ihm ein Unglück zustößt. Letztes Glied der langen Kette von Sicherungsmaßnahmen, die Goethe für Christiane trifft und die - wegen des fehlenden ›Rechtsstaates‹ - zumeist einer Absegnung des Herzogs bedurften, wird 1806 die Eheschließung sein. Daß diese ausgerechnet in den Tagen der Brandschatzung Weimars durch die siegreichen napoleonischen Soldaten stattfand - dafür bietet Damm eine geniale Erklärung.
Bislang wurde die Trauung nur als Dank für das beherzte Eingreifen Christianes interpretiert, die ihren Mann vor den Tätlichkeiten einquartierter Soldaten gerettet hatte. Damm präzisiert, daß Goethe die kriegsbedingte Abwesenheit Carl Augusts ausnutzte, der eine Eheschließung zwar wohl nicht verhindert, ihr aber doch recht kritisch gegenübergestanden hätte. In einer Situation, in der unklar war, ob sich Napoleon durchsetzen und der Herzog sein Fürstentum überhaupt halten würde, erkannte Goethe einen günstigen Augenblick, um persönlich den Übergang vom feudalen Recht zum Code Napoleon zu vollziehen. Hier zeigt sich ein erstaunlicher Tiefgang seiner politischen Haltungen, die ja auch künftig zu Konflikten mit der zunehmend ›national‹ empfindenden Weimeraner Gesellschaft führen wird. In ihrer Nachbemerkung hat Sigrid Damm versichert, daß sie ihre Dokumentation eigentlich nicht interpretieren wollte. »Ich vertraue ausschließlich dem Verbürgten, dem Dokument. Insofern gleicht mein Buch einem Puzzle, in dem ein Drittel der Steine bereits verloren ist ... Dem Leser ist es überlassen, mit dem von mir angebotenen Material umzugehen.« Als im Osten sozialisierte Frau habe ich aber nicht den Eindruck, daß die Autorin in ihren Zwischentexten nur erklärt und nicht bewertet. Es kommt mir merkwürdig vor, wie die Gewalt, die die Ökonomie und die Ideologeme der Ständegesellschaft auf die zwischenmenschlichen Beziehungen ausübte, so genau beschrieben werden kann, zugleich aber die Verantwortung an Christianes diversen Leiden, letztlich sogar ihren Krankheiten, doch dem für sie verantwortlichen Mann zugesprochen wird, als hätte er die Macht gehabt, die Diktate der Ständegesellschaft tagtäglich und überall außer Kraft zu setzen.
Damm beklagt immer wieder typisch männliches Versagen Goethes, der Christiane nicht früh genug geheiratet und nicht gebildet habe, um sie besser auf eine Rolle in der Weimarer Gesellschaft vorzubereiten. Befremdend für mich ist, daß sie offenbar eine gute Lösung in der Zurichtung Christianes auf diese Gesellschaft hin gesehen hätte. Das von Goethe zu verlangen, ist ein Unding. Denn er wollte gerade keine Frau der Weimarer guten Gesellschaft tagtäglich um sich haben. Damm suggeriert, daß er sich mit den ökonomischen Absicherungen von der trauten Zweisamkeit der ersten Jahre freikaufen wollte. Sicher. Aber gut, daß er es tat. Daß er Christiane zur Herrin über sein Haus und eine beträchliche Anzahl von Dienstboten machte, wird nur als männliche Bequemlichkeit ausgelegt, obwohl es sicher bequemer gewesen wäre, diese Rolle standesgemäß zu besetzen. Damit überschreitet die Autorin den sonst so gut gezeichneten historischen Horizont ihres Buches. Denn es ist kein Dokument beizubringen, aus dem hervorgeht, daß Christiane - wie die spätere Goethe-Freundin Marianne von Willemer - von sich aus besonders bildungshungrig oder künstlerisch kreativ gewesen wäre. Nicht als Haushaltsvorstand litt sie, sondern daß Goethe immer weniger zu Hause war.
Ich denke, daß ich mit denselben Quellen ein ziemlich anderes Buch geschrieben hätte. Ausgangspunkt der Differenz wäre das Leiden Christianes, ihr Unwohlsein, das sie ergriff, sobald sie in Weimar allein war. Es war tatsächlich nicht nur ökonomisch oder von der Ablehnung her bedingt, die sie von der Gesellschaft erfuhr. Aus meiner Sicht war Christiane erfaßt von der typischen Frustration, die die ans Haus gebundene bürgerliche Frau erleidet, wenn der Gatte zwecks auswärtiger Tätigkeit oder Belustigung ausfliegt. Aber nach allem, was wir seit Freud und Reich von Sexualität wissen, kann die große Nähe der Anfangszeit in keiner Partnerschaft gewahrt bleiben und die Lebenskunst und -ethik besteht darin, einen Übergang zu einer neuen Form zu finden, in der die sozialen Interessen beider Partner gewahrt sind. Wer meint, die Aufkündigung der nahen Phase sei etwas Böses, hängt eigentlich dem - im gegenwärtigen Feminismus tatsächlich anzutreffenden - Regenbogenpressetraum an, der meint, bei genügend gutem Willen ginge der Wonnemond nie vorbei. Meiner Meinung nach fand Goethe für das Problem 1803 schließlich aber die richtige Lösung, als er Christiane einen neuen Tätigkeitsbereich erschloß, in dem sie nicht nur Erfüllung, sondern auch Vergnügen fand: die Aufsicht über das ihm selbst zur Last gewordene Theater. Auch ermunterte er sie, an den damit verbundenen Vergnügungen nach eigenem Ermessen teilzunehmen. Obwohl es Christianes größtes Glück blieb, wenn beide doch mal zusammen reisten oder ausgingen - was bis zu ihrem Tod vorkam - milderte ihre Intendantentätigkeit und das Ausleben ihrer Tanzleidenschaft doch sichtlich ihr vorheriges Leiden. Meiner Meinung nach hat Goethe ein frühes, recht verantwortungsvolles Beispiel einer freien Liebesbeziehung vorgelebt. Hier Übermenschliches von ihm zu verlangen, hieße indirekt doch wieder das überstrapazierte Bild vom unfehlbaren Dichterfürsten anzuerkennen. Übermenschliches verlangt aber der westliche oder auch bürgerliche Feminismus vom Manne generell. Alles, was die Gesellschaft der Frau nicht gibt, soll der Mann geben. Ich konnte mir nie vorstellen, daß da viel bei herauskommt. Daß Sigrid Damms Recherche materialistischen und idealistischen Feminismus verquickt, machte sie für mich teilweise ärgerlich, aber doch auch besonders spannend. Danke!
Sigrid Damm: Christiane und Goethe. Eine Recherche. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1999, 540 Seiten, 49,80 DM
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