Make Love, not War

Robinson Leben und Werk Pablo Picassos

Er wundere sich sehr, sagte Picasso zu Ilja Ehrenburg, dass Tauben zum Symbol des Friedens werden konnten. Er sah sie als gefräßige, zänkische Vögel an. Aber so war es nun einmal gekommen und so zeichnete, malte, gravierte und töpferte er unverdrossen weiter Tauben, darunter immer wieder Friedenstauben. Und die Tochter, die ihm 1949, am Tag des Pariser Weltfriedenskongresses, geboren wurde, nannte er auch Paloma. Tauben hatten Picasso sein Leben lang begleitet. Ein paar Stück hielt er sich stets in der Nähe seiner Ateliers.

Der Taubenmanie frönte bereits sein Vater, der Tiermaler gewesen war. "Er zeichnete Vögel und besonders gern Tauben. Als im Alter seine Sehkraft nachließ, vertraute er mir seinen Pinsel an und bat mich, den Tauben die Füßchen zu malen, denn diese feine Arbeit wurde ihm schwer. Als er sich davon überzeugt hatte, dass es mir gut gelang, legte er auf immer seine Pinsel aus der Hand, und ich übernahm von ihm die Erbschaft in unserer Künstlerfamilie. Wie groß wäre seine Freude, wenn er am Leben wäre und wüsste, dass meine beiden bescheidenen Täubchen die ganze Welt umflogen haben."

Das phänomenale Formempfinden von Pablo Ruiz Blasco hatte sich schon im zarten Kindesalter herausgebildet durch flinkes Formen tausender kleiner Figuren von Maria, Jesus und anderen Heiligen, mit denen er zum Familieneinkommen beitrug. Die frühe Anerkennung des Vaters, die auch eine umfassende Förderung einschloss, ersparte ihm pubertäre Kämpfe mit ihm. Um seine Werke von denen des Vaters unterscheidbar zu machen, signierte er schon seine ersten Bilder mit "Picasso", dem Familiennamen seiner Mutter. Für eine andere Berufslaufbahn als Maler hat er sich nie interessiert. Und er fand schon früh die wenigen Themen, die er lebenslang darstellte.

Wer das für autistisch hält, irrt sich allerdings. Picasso suchte die ständige Inspiration aus der lebendigen Welt. Das eigentliche Geheimnis seiner Wirkung besteht darin, dass er äußerst sensibel auf alles reagierte, was ihn umgab. So sehr man uns neuerdings den "privaten" Picasso oder auch den Erotomanen als den eigentlichen Picasso anbieten will, war er doch auf gleichsam osmotische Weise leidenschaftlich mit seiner Zeit verbunden und schreckte auch nicht vor eindeutigen Stellungnahmen zurück. "Der Künstler ist ein Gefäß der Gefühle, die von überallher kommen: vom Himmel, von der Erde, von einem Papierfetzen, von einer vorbeigehenden Gestalt, von einem Spinnengewebe. Deshalb dürfen wir Dinge nicht unterschiedlich behandeln. Wo es um Dinge geht, gibt es keine Klassenunterschiede." Hinter dieser im zeigenössischen Stil politisierenden Ausdrucksweise verbirgt sich das, was heute als seine "Magie" bezeichnet wird. Sie hat nichts mit moderner Esoterik zu tun, sondern viel mehr mit dem urgeschichtlichen und antiken Pantheismus, der jedes Ding, bis hin zum letzten Kieselstein, als beseelt ansah und ihm daher auch Subjektivität zugestand.

Picassos groteske abergläubische Vorstellungen, die er aus tiefstem spanischen Provinzdenken mitgebracht hatte, entsprangen ebenfalls diesem Pantheismus. Zum Beispiel glaubte er, dass abgeschnittene Haare und Fingernägel nicht entsorgt, sondern aufgehoben werden müssten. Solche Grillen konnten für die Menschen, die mit ihm lebten, zum Problem werden, sind darüber hinaus aber nicht so ernst zu nehmen. Er stellte sie selbst als einen zusätzlichen Sicherheitsboden dar, den er unter seinem ansonsten wissenschaftlichen Weltbild gespannt hielt.


Der Elfenbeinturm, den er sich in Form von immer neuen Schlössern leisten konnte, die er in Ateliers und Lagerräume seiner Kunstwerke verwandelte, trennte ihn nicht von der Welt. Obwohl er jeden Tag arbeitete und unglücklich und ungehalten wurde, wenn ihm das verwehrt war, stand für ihn vor der Kunst immer wirkliches Leben. Das bedeutete: einen intensiven erotischen Kontakt zu einer Frau und täglichen intensiven Kontakt mit Freunden, der in den meisten Lebensphasen auch von starken politischen Interessen geprägt war. Françoise Gilot erzählte, dass er morgens an Depressionen litt und nur schwer aus dem Bett zu holen war. Und nachmittags konnte er überhaupt nicht anfangen zu arbeiten, wenn er mittags keine Besuche empfangen hatte. "Diese Begegnungen laden mich auf wie eine Batterie, auch wenn das, was dabei vorgeht, scheinbar keine Beziehung zu meiner Arbeit hat." Zeitlebens reagierte er sensibel auf die Entwicklungen der Epochen und veränderte sich mit ihnen. Auch die Frauen, mit denen er sein Leben teilte und die jeweils eine neue Entwicklungsetappe der Emanzipation verkörperten, haben ihn verändert. Er selbst hat nicht nur Kunst-, sondern auch Zeitströmungen angeregt. Das normale Leben sollte, davon war er zutiefst überzeugt, von Erotik und Freundschaft erfüllt sein. Gewalt und Krieg empfand er als unverschämte Eindringlinge, die er nur widerwillig zum Gegenstand seiner täglichen Malerei machte. Er widmete sich ihnen in wenigen, aber konzentrierten und wichtigen Bildern. Obwohl sein außerordentlich diszipliniertes und organisiertes, von Arbeit bestimmtes Leben eigentlich kaum etwas mit den Hippies zu tun hatte, lässt sich die Botschaft seines Gesamtwerks doch recht gut mit der Formel "Make Love - Not War" zusammenfassen. Besonders sein Arbeitseifer lässt die Vermutung zu, dass sich Picassos reale Erotik eigentlich weise Grenzen zu setzen wusste. Denn sein Werk ist als eine gewaltige Sublimation erotischer Energie zu begreifen.

Seine Kunst wurde niemals gegenstandslos. Picasso war und blieb der abstrahierende Künstler par excellence: die Dinge, die er darstellte, verwandelten sich zwar erstaunlich, blieben aber auf nicht weniger erstaunliche Weise erkennbar. Durch die von ihm in Gang gesetzte Verwandlung offenbarten sie neue, oft überraschende Seiten, die er auch durch verblüffende Kombinationen erreichte. "Ich arbeite nicht nach der Natur, sondern vor ihr und mit ihr", ist eine Selbstäußerung, wonach er sich - durchaus richtig - als eine Art Hexenmeister sah.

1943 entstand ein legendär gewordener Stierkopf, indem er eine Fahrradstange über einem Sattel anbrachte. "Ich möchte, dass die Leute sagen: ›Schau, das war ein Fahrrad, und jetzt ist es ein Stier.‹ Ich möchte aber auch, dass sie sagen: ›Es kann wieder ein Fahrrad werden.‹" Um 1950 schuf er den Kopf einer Äffin, indem er zwei Spielautos seines Söhnchens Claude zusammenfügte. Für ihn ließen sich alle Formen auf wenige universelle Grundformen zurückführen. Im Spiel, alles und jedes zu universalisieren, war er ein großer Magier. Bezeichnend ist, dass diese aus der Kombination von wenigen Alltagsgegenständen entstandenen Kunstwerke ziemlich sicher als die seinen erkennbar sind. Gerade in der Skulptur gelang es nur wenigen Epigonen, es ihm hin und wieder gleich zu tun.


Wie es bei Hochbegabten nicht selten ist, hatte das Kind Pablo Ruiz Blasco Probleme, Freunde zu finden. Unter der Einsamkeit litt er. Noch konnte er nichts dagegen tun. Auch setzte ihm ein immer wiederkehrender Alptraum zu: "Mir war, als ob meine Arme und Beine ins Riesenhafte wuchsen und gleich darauf zu zwergenhaften Ausmaßen zusammenschrumpften. Und um mich herum sah ich im Traum andere Menschen, die die gleichen Wandlungen durchmachten, einmal riesengroß, dann wieder winzig klein wurden. Dieser Traum quälte mich jedesmal sehr". Hier kann sich eine Angst vor dem Größerwerden ausgedrückt haben. Auf jeden Fall war der Traum Zeichen eines starken Empfindens für den eigenen, aber auch für fremde Körper. Und er hinterließ bleibende Spuren in Picassos Malerei: Die Proportionen blieben bei ihm in ständigem Fluss, geschmeidig und frei.

1895, mit knapp 14 Jahren, bestand er die Aufnahmeprüfung für die Seniorenklasse der Kunstschule von Barcelona. Die Bewerber hatten einen Monat Zeit, die ihnen gestellten Aufgaben zu lösen. Picasso lieferte sie schon nach einem Tag ab. Aus der Zeit, in der er Kunstschulen besuchte, sind Ölgemälde überliefert, die weder durch das Thema noch technisch von ausgereiften Werken erwachsener Künstler zu unterscheiden sind. Mit Bildern, die Szenen in Kirchen oder bürgerlichen Salons darstellten, bewies er, dass er Gold, Silber, Samt, Plüsch und Brokat, aber auch die feinsten Spitzenstoffe nicht nur meisterlich, sondern auch ausdrucksvoll zu malen verstand: Ein für die erste Kommunion weißgekleidetes Mädchen kniet vor dem Altar, hinter ihr stehen die Eltern. Vorn ist ein Knabe in Messgewändern zu sehen, den Kopf mit dem seltsam abwesendem oder auch ins eigene Innere gerichtetem Blick, den Picassos Figuren auch später oft haben. Schon von 1895 stammt ein Gemälde, das eine Szene im Büro eines Notars darstellt, der die für sein Amt vorgeschriebene altertümliche Perücke trägt. Der Klient, ein alter Mann, wirkt sehr würdig. Die ganze Szene strahlt eine theatralische, sehr spanische Stimmung aus. Aus dem Jahre 1896 ist Picassos erstes gemaltes Selbstportrait überliefert. Braun- und Gelbtöne herrschen vor. Es zeigt einen schmalen, ernsten jungen Mann mit aufmerksamem, aber leicht depressivem Blick. Links hat er einen scharfen Scheitel über den Kopf gezogen, von rechts fallen ihm die Haare tief ins Gesicht. Er trägt einen ordentlichen bürgerlichen Anzug, um den Hals ein grünes Tuch.

Picasso gehört zu den ganz wenigen Künstlern, die freiwillig ein paar Jahre am Hungertuche nagten. Obwohl er sich früh ein glänzendes Auskommen zum Beispiel als Portraitist des spanischen Landadels hätte sichern können, entschied er sich, in der Welt der Armen und Ausgegrenzten zu leben und diese auch zu malen. In Barcelona hatte er rasch das diskriminierte Katalanisch gelernt. Ein von dem damals bekannten Maler, Dramatiker und Kritiker Santiago Rusiñol stammender Leitsatz könnte der des jungen Picasso gewesen sein: "Nähre dich vom Ungewöhnlichen und Unerhörten ..., besinge die Qual des äußeren Leids und entdecke die Golgathas der Erde, erreiche das Tragische durch das Rätselhafte; prophezeihe das Unbekannte". Die in Barcelona erfolgreichen Dramen Rusiñols enthielten Zirkusgestalten wie Harlekine, die ab 1901 auch Hauptmotive von Picasso wurden.

Seine ersten großen Freundschaften schloss er mit Anarchisten. Zu deren Lektüre gehörten Strindberg, Nietzsche und vor allem Hegel. Ob Picasso selbst Hegel gelesen hat, ist zweifelhaft. Auf jeden Fall hinterließ er bleibende Spuren in seinem Werk. Der Kubismus, der mehr zeigen will als ein einfaches Abbild und die Dinge aufklappt, ihre Licht- und Schattenseiten deutlich herausstellt, wäre ohne einen Schuss Hegelianismus über seine Anfänge wohl nicht hinausgelangt. Auch wäre Picassos Manie der ständigen Verwandlungen vielleicht nicht zu seinem unveräußerlichen Schaffensprinzip geworden.

Obwohl er 1901 Mitherausgeber der Zeitschrift Arte Joven in Madrid war, war das enge stilistische Spektrum des Jugendstils für ihn kaum von Bedeutung. Man erkennt Prinzipien des Jugendstils beim frühen Picasso, wenn er die Körperform der hageren Gestalten der rechteckigen Bildform anpasst. Das dauerte nicht lange. Formal Vorgegebenes verwarf er schnell, seine künstlerische Wahrheit suchte er in einer tieferen Ebene. Dabei sollte er sich stets daran erinnern, dass man ihm in seiner Kindheit sagte: "Die Wahrheit ist eine Lüge." Picassospäter: "Wenn ich sie in meinen Leinwänden suche, in welcher der vielen Versuche ist sie? In dem, den ich auswähle?" Er erkannte immer an, dass andere eine andere Wahrheit haben konnten.

In seiner Kunst legte Picasso es darauf an, die Subjektivität seiner Objekte herauszustellen. Daraus folgte eine relativistische Suche nach der Schönheit: "Die Schönheit ist eine sehr sonderbare Sache", sagte er einmal seinem Jugendfreund und lebenslangen Sekretär Jaime Sabartès. "Für mich hat dieses Wort keinen Sinn, denn ich weiß nicht, woher seine Bedeutung stammt und in welche Richtung es zielt. Weißt Du genau, was ihr Gegenstück ist?" Der junge Picasso war der Ansicht, dass "Kunst aus Traurigkeit und Schmerz" entstehe. Die Würde, in der viele Arme trotz ihrer Hoffnungslosigkeit zu leben versuchten, speiste den Begriff von Schönheit, den er sich schließlich doch schuf. Die angemessene Farbe für Schönheit und Würde der Armut schien ihm das Blau zu sein, das bei seinen früheren Portraits bereits Ausdruck der Melancholie gewesen war. Bei den täglichen Spaziergängen mit Sabartès in einer mit Lindenbäumen bepflanzten Pariser Straße begegneten sie immer wieder einer Bettlerin mit zerknittertem schmutzigem Gesicht, die an einem Gartenzaun lehnte. Stets schaute sie die beiden jungen Männer lächelnd an. Kaum hatte Picasso sie erblickt, ging er rasch auf sie zu, um sie zu begrüßen. Und zu Sabartès sagte er: "Hast du schon etwas Schöneres gesehen als diese alte Frau? Bestimmt hat sie sich noch niemals gewaschen. Sie schminkt sich mit Staub und sieht aus, als sei sie dort gewachsen wie ein Pilz, Bestandteil einer Landschaft mit Sonnenuntergang."

Gegen alles, was konventionell als schön galt, empfand Picasso lebhafte Abneigung. Sabartès erinnerte sich, dass er den Anblick der Pariser Oper als "unerklärlich leer" bezeichnete und ihren auf Regelmäßigkeit zielenden Dekor sogar als "Chaos". Die Menschheit habe "noch nichts Besseres hervorgebracht als die Skulptur der Primitiven. Ist Dir schon die Präzision der Höhlenzeichnungen aufgefallen?" sagte er einmal. Die "gleiche Reinheit des Ausdrucks" fand er in assyrischen Reliefs.


Als Picasso 1904 endgültig nach Paris übergesiedelt war, übernahm er ein Atelier am südlichen Abhang von Montmartre, das "Bateau-Lavoir" (Waschboot) hieß. Hier wurde der Kubismus erfunden. Außer Picasso selbst und seiner Gefährtin Fernande Olivier wohnten und arbeiteten hier Juan Gris, Braque, van Dongen, Modigliani. In dem miserablen, bruchbudenhaften Haus wurden dionysisch fröhliche Feste gefeiert, bei denen auch Vlaminck, Derain, Apollinaire und Max Jacob zu Gast waren. "Man macht sich keine Vorstellung von der Ärmlichkeit, dem kläglichen Elend jener Ateliers in der Rue Ravignan. Nur das Atelier von Juan Gris war vielleicht noch entsetzlicher als das Picassos." Das sind Erinnerungen Henry Kahnweilers, des ersten großen Agenten der Kubisten. Er ermöglichte es ihnen, Ausstellungen in Paris zu vermeiden, um ihre Bilder nicht dem Gelächter des konventionellen Publikums aussetzen zu müssen. "Was fertig war, brachte man herunter in meinen winzig kleinen Laden, der etwa vier mal vier Meter maß. Dann schrieben oder telegraphierten wir den wenigen Liebhabern in Paris und im Ausland."

Ausländer, die von Picasso früh begeistert waren, lebten in Amerika und Russland. Obwohl Picasso die Bilder und später vor allem auch die Plastiken, die er selbst für wichtig hielt, nicht verkaufte, erzielte er mit seiner Produktion schon im ersten Weltkrieg soviel Gewinn, dass von einer armen Künstlerexistenz keine Rede mehr sein konnte. Er hatte nun eine gute Wohnung in der Rue de Clichy und ein Atelier nahe der Rotonde in der Rue Schoelcher, von dem man auf den Friedhof Montparnasse sah. Durch seine Freundschaft mit Jean Cocteau lernte er 1917 in Rom den russischen Ballettmeister Daghilew kennen, der Cocteaus Ballett Parade inszenierte. Damals fühlte er sich von allem Russischen angezogen und machte die Bühnenausstattung für Daghilews Truppe. Zu ihr gehörte auch die Tänzerin Olga Kokhlowa, die seine erste Ehefrau wurde.

Olgas einziges Lebensziel war es, an der Seite eines möglichst berühmten Künstlers ein mondänes Leben zu führen. Dazu schickte sich Picasso für einige Zeit auch an. Er zog mit ihr in die elegante Rue de la Boëtie und war überglücklich, als sie 1921 das Söhnchen Paolo gebar. Dass Picasso Kinder liebte, ist schon an den früheren Kinderdarstellungen zu erkennen. An den Bildern, die er von Paolo und seinen späteren Kindern malte, lässt sich aber auch die Anteilnahme erkennen, die er als Vater an ihrer Erziehung und Entwicklung nahm. Es wird wohl das Kind Paolo gewesen sein, das die Eheleute, die sich rasch einander entfremdeten, noch für Jahre zusammenhielt. Freilich war es auch nicht einfach, das Kind eines Genies zu sein, das bald als unangefochtenes Oberhaupt der Pariser Kunstszene galt. Der zwar geliebte, aber viel zu verwöhnt aufwachsende Paolo wird lebenslang keine eigene Identität entwickeln können.

Statt der feingliedrigen Gattin malte Picasso in einem aufgelockerten neoklassizistischen Stil bald lieber massige Riesinnen, die statuarisch am Strand ruhten oder sich mit turnerischer Leichtigkeit durch die Landschaft bewegten. Die sportlich aktive Frau, die nach den herrschenden Schönheitsbegriff jedoch eher schlank sein sollte, entsprach einem neuen Ideal der Zeit. Als Picasso 1927 durch die Schaufenster im Innern eines Kaufhauses einmal ein blondes junges Mädchen sah, das seinen Riesinnen verblüffend ähnelte, begann eine neue Lebensepoche. Marie-Thérèse Walter verkörperte zwar tatsächlich den neuen sportlichen Typ, war aber kaum emanzipierter als Olga. Sie geriet aus der Abhängigkeit ihres einfachen Elternhauses direkt in die Abhängigkeit eines berühmten und ihr in allem überlegenen, reifen Mannes.

Dass Picasso kein Vergewaltiger war, zeigt die Tatsache, dass Marie-Thérèse schon lange sein Modell war, ehe die erotische Beziehung am Datum ihrer Volljährigkeit begann. Nicht, wie oft angenommen, aus spießbürgerlichem Puritanismus, sondern weil nach spanischem Recht eine Scheidung damals unmöglich war und außereheliche Verbindungen juristische Folgen haben konnten, führte Picasso viele Jahre ein geheimes Doppelleben. Materiell sorgte er für Olga und Paolo weiter wie ein Ehemann. Trotzdem drehte Olga durch, als sie die Realität wahrnehmen musste. Ohne ihn hatte ihr Leben keinerlei Sinn. Anstelle nach einem solchen zu suchen, verbrachte sie ihre Zeit bis zu ihrem Tod 1955 damit, Picasso im buchstäblichen Sinne auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Die vielen grotesken Situationen, die Olga provozierte, sind anderswo nachzulesen.

Es war eigentlich erst Marie-Thérèse, die in Picassos fünftem Lebensjahrzehnt den erotischen Künstler hervorlockte, der uns jetzt von seiner und Marie-Thérèses Enkelin Diana Picasso in etwas platter Form gerade als der "eigentliche" Picasso nahegebracht wird. Die Kunsthistorikerin hält seine frühe, am Ende der Kindheit liegende sexuelle Initiation immer noch für eine Ausnahme, obwohl das heute in aufgeklärten Ländern üblich geworden ist. Picassos frühen Zeichnungen über die weibliche Lust hält sie für Bordellszenen. Über die psychoanalytische Wende, die sein Werk in der Zeit nahm, als er mit ihrer Großmutter lebte, erfahren wir dagegen von ihr nichts. Ob Picasso Freud gelesen hat, ist ebenso unklar wie seine Hegellektüre, aber er nahm an der Begeisterung teil, die die französische Intelligenz, insbesondere die Surrealisten, für Freud erfasste. Mit Jacques Lacan war er eng befreundet.

Die leidenschaftliche Liebe zu Marie Thérèse verkleidete er in mittelmeerische Metaphern: der Stier, das Pferd, der Kampf, die Frau. Oft sitzt sie dem Minotaurus gegenüber, in dem das rastlose Begehren des Stieres durch das Pneuma menschlicher Zurückhaltung für eine Weile gezügelt scheint. Wird der Minotaurus als Maler dargestellt, ist das schönste Sinnbild der Kulturleistung geschaffen, die Freud Sublimation nannte. Mit dem Bekenntnis, selbst der Minotaurus zu sein, bekennt sich Picasso ein für alle Mal zur Anerkennung der zweiten, der triebgesteuerten dunklen Natur des Menschen. Dass Marie-Thérèse, die ihrem Liebhaber durch Alter und Bildung so weit unterlegen war, dennoch stets in souveräner Subjektivität auf den Bildern erscheint, ist dagegen dem Pantheismus Picassos zu verdanken, der sicher nicht nur in seiner Malerei, sondern auch in der Beziehung Konsequenzen hatte. Auf den Bildern jedenfalls wurde Marie-Thérèse nicht symbiotisch einverleibt, sondern blieb das bewunderte Andere, Fremde, ganz sich selbst Gehörende. Gerade auch in der sexuellen Extase.

Auch Picassos gewagteste erotische Darstellungen sind nicht pornografisch, weil sie die Subjektivität des sexuellen Erlebens bei beiden Partnern herausstellen. Das wird um so deutlicher, wenn man ihren Seriencharakter beachtet. Die erotische Vertrautheit des Paares ist nicht auf den Akt beschränkt, sondern von unendlich vielen Stunden, die von Distanz und Nähe gleichermaßen erfüllt sind. Damals wandte sich Picasso, der bislang nur gelegentlich Skulpturen gemacht hatte, diesem Genre intensiver zu. Marie-Thérèses Gesicht wurde zum ersten, weltweit wiedererkennbaren Picasso-Frauengesicht. Wie sehr er sich damals die Psychoanalyse anverwandelte, zeigen die vielen Bilder und Skulpturen der (manchmal schlafenden) Marie-Thérèse, deren Nase als gewaltiger Penis gesehen werden kann. In der flächigen Darstellung auf den Bildern sieht das manchmal auch wie ein Doppelgesicht aus, womit Picasso zugleich die reale Gespaltenheit des Individuums zum Ausdruck brachte. Eine großartige Monumentalplastik ihres Kopfes stand lebenslang in Picassos Garten und schmückt auch sein Grab.

Als Marie-Thérèse Walter 1935 Maya zur Welt brachte, stellte sich ein Phänomen ein, das Paaren nicht selten widerfährt, bei denen die Frau in allzu großer Abhängigkeit lebt: das Kind, dem die Mutter sich nun ebenfalls zuwendet, wird zum erotischen Störenfried. Seinem Freund Paul Éluard beichtete Picasso seine eigene Verwirrung darüber, dass Marie-Therèse ihn sexuell weniger anzog, seit sie Mutter geworden war. Dennoch verfolgte er den Plan weiter, sich von Olga scheiden zu lassen und Marie-Thérèse zu heiraten. Materiell sorgte er auch für sie wie ein Ehemann. Auch besuchte er sie täglich für einige Stunden. Die kleine Maya hatte daher nie das Gefühl, keinen Vater zu haben. Auch von ihr existieren viele Gemälden, Zeichnungen und Grafiken.


Der Bürgerkrieg in Spanien erfüllte Picasso mit "Abscheu gegen die militärische Elite", die das Land mit modernster deutscher Militärtechnik "in einen Ozean aus Elend und Tod" stürzte. Er nahm sofort den Auftrag an, für den spanischen Pavillon zur Pariser Weltausstellung ein Gemälde anzufertigen: "Malerei ist nicht dazu da, um Wohnungen auszuschmücken. Sie ist ein Instrument des Krieges ... um gegen Brutalität und Dunkelheit anzukämpfen". In den sich immer mehr politisierenden Netzwerken der Pariser Kunstwelt verliebte er sich 1936 zum ersten Mal in eine ganz auf eigenen Füßen stehende emanzipierte Frau, die neunundzwanzigjährige Dora Maar. Als Fotografin und Malerin war sie einem hochpolitisierten Surrealismus verpflichtet. Sie sprach spanisch, weil sie einen Teil ihrer Kindheit in Buenos Aires verbracht hatte. Der Bürgerkrieg im Nachbarland ging ihr ganz besonders nahe. Zwischen ihr und Picasso entstand rasch eine künstlerische Zusammenarbeit. Dora Maar wurde unter seinem Einfluss auch zur Malerin. Ihr ist es aber auch zu verdanken, dass es eine fotografische Dokumentation über die Entstehung von Guernica gibt. Das Bild, das 1939 im Rahmen einer großen Retrospektive in New York und zehn weiteren Städten in den USA gezeigt wurde, überließ Picasso wegen der nun in ganz Europa drohenden Kriegsgefahr dem Museum of Modern Art als Leihgabe. Er selbst legte den Schwur ab, dass weder er noch dieses Bild nach Spanien kommen würden, solange Franco dort herrsche. In der Dora-Periode haben die Frau und der Minotaurus die rituellen Sphären der friedvollen antikisierenden Welt verlassen und frönen einer stürmischen Erotik vor rot loderndem Hintergund. Diese Bilder erzählen von dem kurzen Glück, die würgende Angst vor dem Weltenbrand im Liebesakt löschen zu können. Dora ist auf vielen Gemälden vor allem als "weinende Frau" überliefert. Picasso deutete das reale Weinen Doras lange als Erschütterung über die Kriegsereignisse. In Wirklichkeit zeigten sich hier aber auch Depressionen, die sich mit zunehmenden Beziehungsproblemen verstärkten. Dora neigte dazu, übersinnliche Wahrnehmungen ernst zu nehmen, was Picasso einem schädlichen Einfluss der Surrealisten zuschrieb. Nach der Trennung unterzog sie sich einer zweijährigen Psychoanalyse mit Lacan, der später angab, ihren Wahnsinn nur geheilt zu haben, weil er ihr einen Weg zum strengen katholischen Glauben öffnen konnte. Das deutet darauf hin, dass sie in ihrer Beziehung zu Picasso ein Borderline-Syndrom entwickelt hatte. Picasso suchte aber bei Frauen nicht die symbiotische Bindung, sondern ein Gegenüber. Ihre Zuwendung zur Religion hinderte Dora Maar nicht, auch weiterhin gute Bilder zu malen.

Nicht nur Henry Kahnweiler meinte, dass Picasso sowohl im faschistischen Spanien als auch während der deutschen Besatzung heimliche Bewunderer und Unterstützer gehabt haben muss. Im letzteren Fall ist mittlerweile klar, dass dies wohl der deutsche Gesandte in Paris, Otto Abetz war, der ihn zuweilen in seinem Atelier besuchte, das jetzt in der Rue des Grands-Augustins lag. Und auch Picasso tauchte manchmal in der deutschen Botschaft auf. Abetz gefielen die Werke der blauen und rosa Periode. Einen Zugang zum Kubismus hatte er nicht. Karl-Heinz Gerstner, der damals offiziell als wissenschaftlicher Sekretär einer Wirtschaftsabteilung der deutschen Botschaft in Paris tätig war, aber mit der Résistance zusammen arbeitete, erinnert sich, dass diese Kontakte "nach damaligem Verständnis eigentlich für beide kompromittierend" waren: "1943 hatte Ribbentrop ein Dutzend Picasso-Bilder erworben - oder beschlagnahmt, um sie in Deutschland zu zeigen. Vor ihrem Abtransport wurden die Bilder in einer internen Ausstellung in der Botschaft gezeigt. Es herrschte ein Riesenandrang. Was hatte das zu bedeuten? Sollte das ein Exempel für entartete Kunst sein, oder demonstrierte Abetz avantgardistisches Verständnis? Die Deutung blieb jedem selbst überlassen. Jedenfalls waren seine Beziehungen zu Picasso häufig Gesprächsstoff in der Botschaft." Gerstner schien es damals, "als wollte man den Franzosen die von ihnen geliebte Kunst nehmen, um sie zu demütigen". Picasso, der es abgelehnt hatte, Paris oder gar Frankreich zu verlassen, lagerte einen großen Teil seiner Gemälde in einem bombensicheren Tresorkeller einer Bank. Als zusätzliche, heute nicht mehr nachvollziehbare Sicherheitsmaßnahme lagerten in seinem Tresor jedoch die Bilder seines Freundes Matisse und in dessen Tresor die seinen.

Während die Beziehungen zu Abetz als taktischer Schutz dienten, war Picassos Atelier in der Rue des Grands-Augustins längst auch ein Treffpunkt des Widerstands, den er großzügig mit Geld unterstützte. Françoise Gilot, die dort ab 1943 verkehrte, hat unter anderem einen heimlichen Besuch von André Malraux erlebt. Picasso, der selbst unter den knappen Zuteilungen an Brennstoffen und Lebensmitteln litt, schrieb 1944 sein erstes und einziges, psychoanalytisch geprägtes Theaterstück Wie man Wünsche am Schwanz packt. Die "Laiengruppe", die es privat aufführte, setzte sich aus dem "Regisseur" Albert Camus und Schauspielern wie Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Dora Maar, Georges Braque, Jacques Lacan und Jaime Sabartès zusammen. Die Stunden vor der Befreiung von Paris, in denen mit möglicherweise riskanten Verteidigungsaktionen der Besatzer gerechnet werden musste, verbrachte Picasso bei Marie Thérèse und Maya. Mit dem Kind bastelte er bunte Girlanden, um den Balkon für die einmarschierenden Alliierten zu schmücken.

Seit Februar 1944 lebte er mit der erst dreiundzwanzigjährigen Françoise Gilot zusammen, die ihn mit einem avancierten Grad weiblicher Emanzipation konfrontierte. Die aus gutem Haus stammende, bereits erfolgreiche Malerin hatte zwar noch nie intime Beziehungen gehabt, begegnete Picassos traditionellen Verführungsriten jedoch reserviert. Zugleich zeigte sie ihm aber offen ihre Faszination und Zuneigung. Ihren Erzählungen nach ließ sich Picasso bereitwillig auf die für sie notwendige monatelange Wartezeit ein. Als beide wussten, dass der Moment nahte, in dem sie sich nackt malen lassen wollte, verabredeten sie sich zu einer Lehrstunde im Radieren. Sie trug ein schwarzes Samtkleid mit hochgeschlossenem weißen Spitzenkragen, das dunkelrote Haar hochgesteckt. So ähnelte sie einem Frauenbild von Velasquez, von dem sie wusste, dass Picasso es bewunderte. "Ist das der Aufzug, in dem man das Radieren übt?" fragte er verblüfft. "Ich weiß genau", sagte Françoise, "dass Sie nicht die Absicht haben, mir heute das Radieren beizubringen! Ich wollte einfach nur schön aussehen!" Picasso war entwaffnet. "Mein Gott! Sie machen mir die Sache aber schwer! Könnten Sie nicht wenigstens so tun, als ob ich Sie erobern müsste? Ich weiß nun überhaupt nicht, wie ich es anstellen soll!" Nach einer kleinen Pause sagte er: "Eigentlich haben Sie recht. Es ist besser, die Dinge auszusprechen wie sie sind. Aber ich muss Sie warnen: Das volle Tageslicht ist ziemlich grell. Zum Glück haben wir ja Zeit." An diesem Tag sah er sie zwar nackt und stellte fest, dass er sich ihren Körper genau so vorgestellt hatte, wie er war. Aber sie schliefen noch nicht zusammen. Françoise wunderte sich später, dass die eigentlichen "Sitzungen" selten und kurz waren. Körper und Gesichtszüge der Menschen, die er liebte, konnte er blitzschnell "auswendig" auf Papier oder Leinwand bringen.

Obwohl das Paar später hin und wieder zu den Glamour-Gestalten der Gesellschaftspresse wurde und die sexuellen Phantasien der Zeit enorm stimulierte, scheinen in dieser Zeit erotische Werke zu fehlen, die den früheren vergleichbar wären. Aber das Frauengesicht, das manchmal hinter der Friedenstaube schwebt, ist das von Françoise. Es prangt auch auf vielen Bildern, Grafiken und Radierungen sowie auf den vielen Plastiken, die er damals machte. Ein Teil davon - wie der berühmte Fahrrad-Stierkopf - ist aus weggeworfenem Alltagsmüll zusammengebaut, den Picasso bei den Strandspaziergängen mit Françoise und den beiden Kindern Paloma und Claude zusammensuchte. Diese von ihm erfundene, später aber selten mit derselben Bravour ausgeführte Kunst heißt heute "Recycling Art". Damals mauserte sich Picasso auch noch zum Töpfer. Es gibt einen Filmstreifen, der zeigt, wie er die von einer Hilfskraft laufend auf einer Töpferscheibe gedrehten nassen Tonvasen übernimmt und mit wenigen Griffen - oft ohne hinzuschauen - Tauben, Frauen oder andere Dinge zauberte.

In der neunjährigen Beziehung mit Françoise war es natürlich nur eine Frage der Zeit, dass die junge Frau ihrem Leben noch einmal eine neue Richtung geben wollte. Dass sie die einzige Frau war, die Picasso verließ und auch jede finanzielle Unterstützung ablehnte, ist insofern falsch, als das auch für seine Tochter Maya zutrifft. In ihrer Teenagerepoche hatte sie viel Zeit bei ihrem Vater verbracht und war in die Rolle einer Gesellschaftsdame hineingewachsen. Obwohl sie Picasso große Tochterliebe entgegenbrachte, erkannte sie die Gefahren eines abhängigen Lebens, wie es ihre Mutter und ihr Halbbruder Paolo führten. Sie beschloss, sich vollkommen selbständig zu machen und ihren Vater nie mehr wiederzusehen. Hätte sie diesen Schritt nicht vollzogen, wäre ihr nach Sabartès Tod wahrscheinlich die Rolle der Sekretärin zugekommen, die nun ihr Halbbruder Paolo übernahm. Er hatte es nie geschafft, ohne das Geld seines Vaters zu leben. Diese Haltung vererbte er noch seinen Kindern, die in krankhafter Fixierung auf das Geld ihres Großvaters aufwuchsen. Die Enkelin Marina hat darüber traurige literarische Zeugnisse abgelegt.

Obwohl Picasso zum Zeitpunkt, als Françoise ihn verließ, schon 73 Jahre alt war, war seine Anziehungskraft so groß, dass an ihre Stelle sofort eine junge Frau trat, die geschieden und Mutter eines kleinen Mädchens war: Jaqueline Roque, seine letzte und langjährigste Gefährtin. Mit ihr verbrachte er im geliebten Südfrankreich noch knapp zwei Jahrzehnte. Die alten arkadischen erotischen Motive aus der Zeit mit Marie-Thérèse lebten wieder auf. Allerdings kehrt der Minotaurus nun mehr als früher seine menschlichen Züge hervor: Er erscheint nicht selten, sondern meistens als Künstler, der seine Geliebte malt, weil er sie nicht ununterbrochen lieben kann. Manchmal schläft der Minotaurus sogar. Am Ende seines Lebens war Picasso seine Kunst wichtiger als Kontakte. Zu den wenigen, die ihn bis zum Schluss oft besuchen durften, gehörte der Chefredakteur der kleinen kommunistischen Lokalzeitung.

Auch mit Marie-Thérèse hielt er bis ans Lebensende Kontakt. Sie wohnte nicht weit vom ihm und pflegte ihn - immer noch Sportlerin - ab und zu mit dem Fahrrad einen Besuch abzustatten. Obwohl sie schon lange auf Distanz zu Picasso gelebt hatte, meisterte sie das Leben ohne ihn nicht. Sie erhängte sich zwei Jahre nach seinem Tod. Jaqueline Roque erschoss sich am 15. Oktober 1986, dem Tag, als sie Picassos letztes Vermächtnis erfüllt hatte: die Überführung von Guernica ins demokratisierte Spanien. Darum hatte noch zu Picassos Lebzeiten auch bereits das faschistische Regime gebuhlt.


Heute ist so gut wie vergessen, dass Picasso noch nach dem 2. Weltkrieg ein äußerst umstrittener Künstler war. Im Westen war er nicht nur wegen der Nähe zum Kommunismus suspekt, sondern galt auch als Pornograph. In den sozialistischen Ländern, die er mit seiner Friedenstaube vom Westen her grüßen wollte, wurde sein Gesamtwerk bis in die sechziger Jahre hinein nicht popularisiert. Selbst Bertolt Brecht, der in der bildenden Kunst einen fast naturalistischen Geschmack hatte, hatte Vorbehalte gegen Guernica und begriff nicht, dass Picassos Kubismus und sein Abstrahieren eigentlich Mittel künstlerischer Verfremdung waren. Aber er wählte in offener Opposition zur Kulturbürokratie der DDR eine schwarze Friedenstaube Picassos als Motiv für den sackleinernen Vorhang des Berliner Ensemble. Außerdem nutzte das Berliner Ensemble noch ein mehrfarbiges Motiv Picassos als Logo, das dieser für die seidenen Halstücher der französischen Delegation zu den Weltjugendfestspielen 1951 in Ostberlin entworfen hatte. Es war Gegenstand jahrelanger kulturpolitischer Kämpfe. Im Programmheft zur Inszenierung des Kaukasischen Kreidekreises, der wegen der Benutzung von Masken ebenfalls Formalismus vorgeworfen wurde, ist ein Meinungsstreit über das Logo abgedruckt. Die schlaue Weigel hatte es auch einer Gruppe von Kindern zur Beurteilung vorgelegt. Denen war "dieses Plakat ganz selbstverständlich und leicht fassbar. ... das sind gelbe, rote, schwarze und weiße Menschen, und alle verbindet die Friedenstaube." Dagegen stand die Meinung eines Ostberliners: "Mir ist bekannt, dass der Maler Picasso ein fortschrittlicher Mensch ist und ich schätze ihn als Friedenskämpfer." Nicht einverstanden sei er "mit seiner in vielen Fällen sehr formalistischen Gestaltung" und er könne nicht verstehen, "dass man ein solches Plakat als Aushängeschild einer fortschrittlichen Bühne benutzt".

Über Ruth Berlau bat die Weigel den damals sehr bekannten dänischen Zeichner und Karrikaturisten Herluf Bidstrup, der Stalinpreisträger war, "gegen die unklugen Äußerungen von Leserbriefen gegen unser Picasso-Plakat" eine "kleine Bemerkung an eine unserer Zeitungen" zu geben. Bidstrup veröffentlichte in der BZ am Abend vom 28. April 1954: "Picasso hat elegant und dekorativ die vier Weltrassen durch Masken symbolisiert, welche die Friedenstaube einrahmen, die zentrale Figur aller Kultur. Ich habe gehört, dass die Form dieses Plakats in Berlin Proteste hervorgerufen hat. Die Deutsche Demokratische Republik muss ein glückliches Land sein. In Dänemark würde das Plakat auch Proteste hervorgerufen haben, aber nicht auf Grund der Form, sondern auf Grund des Inhalts. Hoffentlich ist die Zeit nicht fern, wo auch die Theater der Atlantikpakt-Länder es wagen dürfen, die Friedenstaube als Symbol ihrer Kunst zu benützen."

Tatsächlich war die Friedenstaube im Westen dermaßen verpönt, dass Brecht 1955 beim Pariser Gastspiel des Berliner Ensemble einwilligte, im Falle starker vorheriger Proteste auch ohne den Friedenstauben-Vorhang zu spielen. Als Picasso selbst mit einer Delegation des Weltfriedensrates in die USA reisen wollte, wo seine Bilder in vielen Museen hingen, wurde ihm das Visum verweigert.

Zu den atavistischen Zügen, die Picasso lebenslang prägten, gehörte auch, dass er nie ein Bankkonto führte. Bilder verkaufte er nur, wenn er selbst oder Menschen, die ihm nahestanden oder nahegestanden hatten, Geld brauchten. Nach seinem Tode fanden seine Kinder und Enkel in den verschiedenen Wohnungen, Ateliers und Schlössern, die er nach und nach mit seinen Bildern angefüllt hatte, vergessene Kartons voller längst verfallener Banknoten. Die Registrierung seiner Nachlässe dauerte Jahrzehnte. Eine endgültige Schätzung der Werte ist unmöglich. Nach unvermeidbarem Streit, insbesondere mit Marina, der Tochter des früh verstorbenen Paolo, die ein traumatisiertes Scheidungskind war und in einem bissigen Buch Versäumnisse ihres Vaters ihrem Großvater angekreidet hatte, entstand die vorbildliche Stiftung "Succession Picasso". Die Erben einigten sich, als Erbschaftssteuer die von ihm selbst als wichtigste Wendepunkte seines Werks zurückbehaltenen, berühmtesten und wahrscheinlich auch wertvollsten Stücke dem französischen Staat zu übergeben. Diese Werke bilden die ständige Sammlung des Musee Picasso, in der Rue Thorigny, im 3. Pariser Arrondissement.



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