Manövrieren in der Sackgasse

Tunesien Eine Regierung aus Laizisten und Islamisten gilt als unausweichlich – und ist einen Versuch wert
Ausgabe 33/2016
Das Parlament in Tunis während des Misstrauensvotums gegen Premier Essid
Das Parlament in Tunis während des Misstrauensvotums gegen Premier Essid

Foto: Feti Belaid/AFP/Getty Images

Als das tunesische Parlament am 30. Juli Premier Habib Essid das Vertrauen entzog, gab es dafür einen unbestreitbaren Anlass: Der parteilose Politiker vermochte es nicht, das Land aus der Stagnation zu führen. Das Ergebnis der Vertrauensfrage war keine Überraschung. Nachdem sich zuletzt etliche Abgeordnete der laizistisch ausgerichteten Sammlungsbewegung Nidaa Tounes aus der Fraktion zurückgezogen hatten, war die vormals regierende islamistisch geprägte Ennahda-Partei wieder stärkste Fraktion. Zuvor schon dachte Präsident Béji Caïd Essebsi, der seinen grandiosen Wahlsieg vor anderthalb Jahren Hoffnungen verdankte, die große Bevölkerungsteile mit Nidaa Tounes verbinden, öffentlich über eine Regierung der nationalen Einheit nach. Dieser Intention kam der Ennahda-Führer Rached Ghannouchi mit der Erklärung entgegen, seine Partei wolle künftig Politik und Religion trennen und sich so den historisch gewachsenen politischen Bedingungen des Landes anpassen.

Ein solches Versprechen wirkt freilich zwielichtig, da sich Ennahda als eine „nationale politische Partei“ beschreibt, die zivilrechtlich islamisch ausgerichtet sei und sich im Rahmen der Verfassung „von den Werten des Islam und der Moderne“ inspiriert fühle. Das klingt nicht eindeutig laizistisch, doch enthält diese Formulierung wenigstens den Fingerzeig, dass man sich vorerst an die Anfang 2014 verabschiedete laizistische Magna Charta halten wolle. Die Ennahda-Partei setzt sich damit von den ägyptischen Muslimbrüdern ab, die es sehr eilig hatten, eine eigene, islamistisch grundierte Scharia-Verfassung durchzusetzen, was dann durch den Militärputsch vom 3. Juli 2013 verhindert wurde.

Geld oder Geschenke

Beauftragt mit einer Regierungsbildung in Tunis ist nun Youssef Chahed, ein Agraringenieur, der im Kabinett Essid Minister für Angelegenheiten der Gebietskörperschaften war. Da er gerade einmal 40 Jahre alt ist, soll der ungeduldigen, größtenteils perspektivlosen Jugend wohl signalisiert werden, dass dieser Premier ihre Interessen schärfer im Blick haben werde als seine Vorgänger. In 30 Tagen muss Chahed eine neue Regierung rekrutieren, was kein einfaches Unterfangen ist. Ennahda wird dafür anspruchsvolle Bedingungen stellen, weshalb Chahed zu einer möglichst aus Fachleuten bestehenden Allparteienregierung neigt. Deren Prioritäten sollen der Kampf gegen Terrorismus und Korruption und für Arbeitsbeschaffung zugunsten der Jugend sein.

Die im Parlament präsenten Linksgruppierungen haben bei der Abwahl von Habib Essid nicht mitgestimmt, weil sie überzeugt sind, dass eine frustrierende Instabilität nicht allein mit politischen Mitteln zu überwinden, sondern ökonomisch begründet sei. Tatsächlich ist es seit dem Umsturz Anfang 2011 nicht gelungen, die grassierende Verarmung einzudämmen. Selbst die Mittelschichten leben prekärer als unter dem geschassten Autokraten Ben Ali.

Die seit der „Revolution“ in den Medien präsente und scharfsinnige Analystin Maya Ksouri beklagt denn auch eine „absolute Sinnentleerung der Politik“. Während die meisten Kritiker das Phänomen der Korruption als allgegenwärtig bejammern, wird Ksouri genauer: „Wir leben in einem Land, in dem korrupte Geschäftsleute politische Entscheidungsträger sind. Jeder weiß hier, dass diese Leute enge Kontakte zu staatlichen Institutionen haben.“ Abgeordnete seien käuflich – mit Geld oder Geschenken wie Autos. Die als unausweichlich geltende Koalition von Nidaa Tounes und Ennahda hält Ksouri für „eine widernatürliche Allianz“, durch die beide Parteien Vertrauen verlieren dürften. Die Anhänger von Nidaa Tounes hofften, die Partei werde Wertvolles – nämlich den Laizismus und die Stabilität – aus der Ära des Präsidenten Habib Bourguiba (1957 – 1987) retten. Genau das sei für die Gefolgschaft Ennahdas aber ein Synonym für Konterrevolution. Diese Lage werde beide Parteien – und damit die Mehrheit der Tunesier – in die Entpolitisierung treiben, womit gewiss schon bei den kommenden Kommunalwahlen zu rechnen sei. In der Tat gibt es jetzt schon weniger aktive Bürgervereine. Was erklärbar ist, denn vom Recht, sich frei zu assoziieren, profitieren heute vor allem Gemeinschaften, die aus dem Ausland finanziert werden, nicht zuletzt aus wahhabitischen, also saudischen Quellen.

Notfalls autoritär

Weder tunesische Politiker noch Journalisten würden es derzeit wagen, die fragwürdige Liaison zwischen Nidaa Tounes und Ennahda als solche zu bezeichnen. Man gibt sich vielmehr alle Mühe, das „Bündnis“ schönzureden. Die Selbstzensur, merkt dazu Maya Ksouri an, sei der Selbstzensur ebenbürtig, die zu Zeiten von Ben Ali geherrscht habe.

Umfragen zeigen indes, dass über neun Zehntel der Tunesier, also auch die meisten Ennahda-Sympathisanten, weiter in einem laizistischen Staat leben wollen. Ebenso viele sehnen sich nach der einst von Habib Bourguiba begründeten Republik zurück, obwohl dessen Regierungsstil oft mit dem Prädikat „autoritär“ versehen wurde. Insofern war die jüngst in Tunis erfolgte Errichtung eines Denkmals für den Staatsgründer der momentan am wenigsten beanstandete öffentliche Akt. Weitgehend einig sind sich die Tunesier ebenfalls im Wunsch nach einem politischen System, in dem der Präsident über mehr Macht verfügt als das Parlament. Eigentlich sieht das die Verfassung auch so vor. Es zählt zu den Enttäuschungen vor allem tunesischer Linker, dass es Staatschef Essebsi nicht gelungen ist, die Geschlossenheit von Nidaa Tounes zu erzwingen – gegebenenfalls autoritär.

Die tunesische Demokratie manövriert in einer Sackgasse hin und her. Es ist anzunehmen, dass die wohl zustande kommende Allparteienregierung auf eine Art Notprogramm des Präsidenten hinausläuft, um Neuwahlen zu vermeiden. Denn die könnten Ennahda eine Mehrheit bescheren. Das Schwanken zwischen Laizismus und Islamismus, zwischen Demokratie und Autokratie wird bis auf Weiteres Tunesiens Schicksal sein. Eine stabile demokratische Perspektive kann es erst geben, wenn moderne Sozialsysteme dafür sorgen, dass Menschen nicht länger von der keineswegs uneigennützigen religiösen Barmherzigkeit der Saudis und Katarer zehren müssen.

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