Sie ist die große Pionierin des modernen aufgeklärten Multikulturalismus. Die 1936 im algerischen Cherchell – der alten Königsstadt Cäsarea - geborene Assia Djebar gehörte zur ersten Generation algerischer Mädchen, die die koloniale französische Schule besuchten. Sie war die erste Algerierin, die in Frankreich ein Geschichtsstudium aufnahm, das sie während des Unabhängigkeitskrieges im tunesischen Exil durch ein Studium bei dem großen Orientalisten Louis Massignon erweiterte.
Ihre außerordentliche Bildung in französischer und klassischer arabischer Kultur wird ergänzt durch ihre herkunftsbedingte Kenntnis berberischer und arabischer Volkskultur und nicht zuletzt durch ihr bewusstes Aufgreifen radikaler Fragestellungen, d
llungen, die der Feminismus in den letzten Jahrzehnten aufgeworfen hat.Ihr neues Buch Nirgendwo im Haus meines Vaters wird vom Verlag als Djebars „persönlichstes Buch“ beworben. Leider ist dies die einzige richtige Passage des Werbetextes auf der Rückseite des Covers. Dass der Vater „streng die arabischen Bräuche“ befolgte, die Mutter „eine selbstbewusste Frau von europäischer Eleganz“ gewesen sei und die Tochter sich zwischen diesen „zwei Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten“ ihren Weg bahnen musste, gibt das gängige Klischee wieder, nicht aber die erzählte Geschichte und noch weniger ihre Botschaft.Als verschleierte FrauWäre der Vater, einer der ersten muslimischen Französischlehrer des kolonialen Algerien, wirklich streng den Bräuchen seiner Gruppe gefolgt, hätte er neben dem Islam nicht die Gleichheitsbotschaft der Französischen Revolution zu den Grundpfeilern seines Weltbilds gemacht und seine Töchter nicht zur Schule geschickt.Die Mutter erscheint in der ersten Hälfte des Buchs als verschleierte Frau, die das Dorf nie allein durchquert, sondern nur in Begleitung ihres ältesten Töchterchens, das die Funktion einer Tugendwächterin ausübte. Dass die Mutter, als die Familie nach Algier zieht, den Schleier sofort ablegt, beweist, dass er eine Konzession an die Dorfgesellschaft, aber keine Forderung des Ehemannes war.Djebar zeigt, was Klischees heute allzu gern ausblenden: Emanzipation hängt nicht nur von Individuen oder vom Familienklima ab, sondern wird gebremst oder gefördert im Wechselspiel von individuellen und vielerlei gesellschaftlichen Faktoren. Ihre Eltern lebten als aktivierte Elemente einer zunehmend hybrid werdenden kulturellen Situation. In der Ehe herrschte mehr Spielraum für die Entwicklung der Mutter als in ganz traditionellen Familien, aber die grundsätzliche, eben auch psychisch verankerte Abhängigkeit konnte in der ersten Generation dieser Emanzipationspioniere nicht überwunden werden. Als der Vater starb, sagte die inzwischen berufstätige Mutter: „Ich fühle mich jetzt wie eine Katze ohne Pfötchen“.Djebars Buch macht deutlich, dass der Zugang zu Bildung die unabdingbare Voraussetzung ist, einen Emanzipationsprozess in Gang zu setzen und in Bewegung zu halten. Denn nur Bildung erlaubt das Überschreiten der Grenzen, die jedes familiäres Umfeld setzt. Dass französische Schulbibliotheken damals einen breiten Ausschnitt des Universums anspruchsvollster „Erwachsenenliteratur“ enthielten, ermöglichte es der Tochter, völlig andere Lebensansprüche als die Mutter zu entwickeln. Freilich konnte sie sie nur teilweise durchsetzen. Gerade die höheren Stufen der Emanzipation wie die Entwicklung der weiblichen Sexualidentität lassen sich oft nur schwer und mit Schmerzen erklimmen.Von diesen Schmerzen handelt Djebars „persönlichstes Buch“. Ihre Intensität lässt sich nur ermessen, wenn man begreift, dass der Vater sowohl als Auslöser als auch als Blockierer des Emanzipationsprozesses erlebt wurde. Dabei ist er, der die Tochter – im Gegensatz zu anderen muslimischen Mitschülerinnen – in europäischen Kleidern in die Schule schickte, auch auf dem Gebiet der sexuellen Emanzipation keineswegs Totalblockierer gewesen. Aber er war schockiert, als er sah, wie das kleine Mädchen auf einem Jungenfahrrad saß und „seine Beine zur Schau stellte“.In kurzen HosenDas von seiner Reaktion ebenfalls schockierte Kind wurde sich zum ersten Mal bewusst, dass ihrem Körper – im Unterschied zum Körper der Jungen – tabuisierte Zonen zugeschrieben wurden. Damals setzte das furchtbare Gefühl ein, nur teilweise – eben als Mensch ohne Beine – vom Vater anerkannt zu sein und als ganzer Mensch in seinem Hause keinen Platz zu haben.Das mit zunehmendem Alter und zunehmender Bildung immer stärker werdende Bedürfnis, sich als ganze Frau zu entwickeln, konnte nur durch Überschreitung ausgesprochener und unausgesprochener Verbote realisiert werden. Das junge Mädchen, das ein Internat in einer anderen Stadt und schließlich die Universität in Algier besuchen darf, nimmt heimlich an Basketballturnieren in kurzen Hosen teil, geht heimlich ins Kino und trifft sich heimlich mit einem jungen Mann. Als sie feststellt, dass er ihren Vorstellungen nicht entspricht, macht sie einen Selbstmordversuch. Aber trennen kann sie sich nicht.Wie viele muslimische Frauen schätzt Djebar die Freizügigkeit, in der ihre französischen Mitschülerinnen leben durften, wahrscheinlich höher ein, als sie realiter war. Bis heute werden auch viele Mädchen westlicher Kultur von ihren Eltern mehr überwacht als Jungen. Allerdings beschränken sich solche Restbestände patriarchaler Einengung hier meist auf wenige Jahre, werden aber durchaus auch als Amputationsversuch an der eigenen Persönlichkeit erlebt. Insofern sollten wir den von Djebar beschriebenen Vater nicht nur als individuelle Inkarnation traditioneller Auffassungen verstehen, sondern eher eines zu seiner Zeit kaum lösbaren kulturellen Konflikts.In den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war sich die westliche Literatur und Wissenschaft der Ebenbürtigkeit des weiblichen und männlichen Begehrens bereits bewusst. Das traf aber für den Alltagsverstand und die gelebte Praxis der Europäer nur begrenzt zu. Es von damaligen Muslimen zu erwarten, wäre völlig ahistorisch: Aus demselben Grund, weshalb die Mutter im Dorf den Schleier tragen musste, konnte der Vater auch seiner Tochter nur begrenzte Emanzipation erlauben. Sie wäre von ihrer Gruppe ausgegrenzt worden, ohne sich der Anerkennung durch die Franzosen sicher sein zu können. Schließlich verweigerten sie den Muslimen per Gesetz Bürgerrechte und höhere Karrieren.Djebars Buch schildert das Drama jener winzigen muslimischen Generation, die damals auf dem Weg zur Bildungsemanzipation ein großes, auf dem Weg zur sexuellen Emanzipation jedoch nur ein kleines Stück voran kam. Die geringen erotischen Erfahrungen, die sie über Jahre heimlich sammelte, reichten nicht, um rückblickend als „Befreiung“ zu erscheinen. Dass sie einundzwanzig Jahre an ihrem ersten Freund kleben blieb, kann sie heute nur noch mit Bitterkeit sehen.Der ahistorisch-klischeehafte Werbetext ist nicht die einzige verlegerische Nachlässigkeit, die am Buch zu bemängeln ist. Schon der französischen Originalausgabe hätte man ein stringenteres Lektorat gewünscht, das Längen und Doppelungen eliminiert. Aber die spannungsvolle Genauigkeit, mit der Djebar die Bedingungen und Hindernisse einer weiblichen Emanzipation beschreibt, lohnt die Lektüre allemal.
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