Politischer Islam Lange vor der AKP wurde der Laizismus bekämpft. Muslimische Geheimbünde verfochten eine Re-Islamisierung der Gesellschaft, die nach den Gesetzen der Scharia funktioniert. Der politische Islam von Tayyip Erdoğan galt zunächst als akzeptabel
Als das Bild vom islamischen Demokraten erste Kratzer bekam: Istanbul 2013, während der Besetzung des Gezi-Parks
Foto: Selin Alemdar/Getty Images
Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind.“ Ähnlich wie in den sowjetisch gewordenen muslimischen Teilen des ehemaligen russischen Zarenreichs verbot auch Kemal Atatürk (1881 – 1938) Anfang der 1920er Jahre die Ausbildung von Islamgelehrten. Er errichtete stattdessen ein Erziehungsmonopol des Staates. Imame, die sich widersetzten, landeten im Gefängnis. Viele wurden zu religiösen Märtyrern. Der 2019 verstorbene Islam-Spezialist Arnold Hottinger meinte, dass in der Türkei einst klassisch ausgebildete Prediger auszusterben begannen. Tatsächlich erfolgte die Ausbildung von Geistlichen ab 1924 nur noch bis zum Niveau von Mittel- und Gymnasialschulen, von denen viele 1930 geschlossen wurden.
Atatürks Versuch,
s Versuch, den Laizismus mit polizeilicher Gewalt durchzusetzen, fruchtete freilich nur in den Teilen der türkischen Gesellschaft, die von einer Modernisierung profitierten. Das traf vor allem auf die Städte zu. Auf dem Land bildeten sich islamische Geheimbünde, aus denen allmählich eine Vielzahl ordensähnlicher Organisationen hervorging. Was die wollten, war nicht weniger totalitär als der Laizismus der Kemalisten. Ihnen lag an einer Re-Islamisierung der Gesellschaft, die nach den Gesetzen der Scharia funktionieren sollte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich die kemalistische Staatsdoktrin zu lockern. Weil die politisch-militärische Führungskaste ein ideologisches System benötigte, das gegen eine stärker werdende Linksbewegung in Stellung gebracht werden konnte, entstand ein hybrides System zur Förderung und gleichzeitigen Unterdrückung einer islamischen Renaissance. 1949 wurde eine erste theologische Fakultät in Ankara gegründet, weitere folgten. Die bislang im Untergrund wirkenden islamischen Vereine wurden zusehends toleriert. Der Staat behielt sich jedoch vor, den sich nun herausbildenden neuen theologischen Apparat unter Kontrolle zu halten, um zugleich von dessen sozialen Kompetenzen zu profitieren.Politischer Islam in der Türkei Teil des internationalen islamistischen Netzwerks1951 wurden religiöse Lehranstalten auf Mittel- und Gymnasialniveau zugelassen, die teils mit Spenden von Gläubigen finanziert wurden. Sie nahmen besonders Jugendliche aus den unteren Schichten auf, denen dadurch bessere Bildungschancen eingeräumt waren. Nach dem Militärputsch von 1971 wurden diese Schulen zunächst wieder geschlossen, mussten aber 1974 erneut geöffnet werden. Nach der beginnenden Demokratisierung wuchs ihre Zahl, während Linke aus dem Bildungswesen verdrängt wurden. Bald hatten die religiösen Lehranstalten mehr Schüler als die staatlichen Berufsschulen.Weil sie durch Trägervereine nicht nur aus der Türkei, sondern zunehmend von Förderern auf der Arabischen Halbinsel finanziell unterstützt wurden und großzügig Stipendien vergaben, waren sie bald den rein staatlichen Schulen überlegen. Und da nicht alle ihrer zahlreichen Absolventen Prediger werden konnten, setzten viele die Ausbildung an den Universitäten fort oder kamen in der staatlichen Bürokratie unter, sogar in der Polizei. Hauptsächlich die Armee versuchte weiter, sich durch strenge Kontrollen vor dem Eindringen politisch ambitionierter Muslime zu schützen. Insgesamt wurde der Säkularismus nicht nur in den Unter-, sondern ebenso in den Mittelklassen zurückgedrängt. Mehr noch, aufgrund enger Verbindungen zu den Golfstaaten war der politische Islam in der Türkei Teil des nach dem Sechstagekrieg von 1967 entstehenden internationalen islamistischen Netzwerks. In diesem Konflikt hatten Ägypten, Syrien und Jordanien gegen Israel verloren und schmerzliche Gebietsverluste erlitten. In den 1980er Jahren dann wurde die noch aus der Zeit des Osmanischen Reiches herrührende Feindschaft zwischen Wahhabiten und den islamischen Vereinen der Türkei endgültig begraben.Da das Land aber nicht wie die Golfstaaten über eine Rohstoffrendite verfügte, erfolgte die soziale Islamisierung der Gesellschaft eher nach dem Vorbild der ägyptischen Muslim-Brüder. Der Staat setzte die Steuerpflicht nur teilweise durch, stattdessen entstand ein Sozialsystem auf der Basis eines informellen Steuersystems der Unternehmer. Jedoch wurde nur alimentiert, wer sich islamischen Lebensregeln unterwarf. So entstanden in türkischen Städten ganze Bezirke, die sich als islamisch bezeichneten, weil dort mehr und mehr der Frauenschleier durchgesetzt wurde und es keine Geschäfte mehr gab, die Alkohol und von der Religion verbotene Lebensmittel verkauften.Gegenspieler GülenDie bewusste Vernachlässigung des staatlichen Steuersystems und die Verlagerung der sozialen Aufgaben auf eine private Wohlfahrt – das entsprach den neoliberalen Vorstellungen des Westens, worauf letztendlich auch das Bündnis beruhte, dass dieser mit der Türkei einging. Die Muslim-Brüder, deren ägyptischer Begründer Hasan al-Banna (1906 – 1949) bereits die Umwandlung der Bruderschaft in eine moderne Partei anvisierte und die auch in anderen Ländern eine erhebliche Massenbasis hatten, erschienen dem Westen auch deshalb als möglicher demokratischer Partner in der islamischen Welt. Und das, obwohl das Endziel einer islamischen Theokratie keineswegs aufgegeben wurde. Auf diesem Kalkül beruhte ein Ausspruch von Recep Tayyip Erdoğan als Mitgründer der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). In seiner berühmt gewordenen Rede von 1997 in Siirt sagte er: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“Dafür wurde Erdoğan von der kemalistischen Justiz zu zehn Monaten Haft verurteilt und mit einem lebenslangen Verbot politischer Tätigkeit belegt. Zuvor hatte er in einem Interview gesagt, dass es nicht möglich sei, „laizistisch und gleichzeitig Muslim zu sein“, womit er die Verfassung der türkischen Republik angriff. Ungeachtet solcher Aussagen galt Erdoğan, als die AKP 2002 die Wahlen gewann und er im Jahr darauf erstmals Ministerpräsident wurde, als Hoffnungsträger nicht nur für einen Großteil seiner Landsleute, sondern ebenso im Westen. Er konnte einen Wirtschaftsboom einleiten und die Lebensverhältnisse breiter Schichten verbessern. 2011 bereiste er die Länder des Arabischen Frühlings und warb dort für sein islamisches Demokratiemodell. Dass die Türkei dann zum – auch vom Westen – finanzierten Aufmarsch- und Rückzugsgebiet für islamistische Rebellen wurde, mit denen das laizistische Regime Syriens gestürzt werden sollte, verkaufte Erdoğan unter dem nationalistischen Etikett: Rückkehr des osmanischen Einflusses im Nahen Osten. Erste Kratzer bekam das Bild vom islamischen Demokraten Erdoğan 2013, als er die wochenlang andauernde Besetzung des Gezi-Parks, bekannt als Unruhen um den Taksim-Platz, gewaltsam niederschlug und eine breit angelegte Verhaftungswelle folgen ließ, die sich vorrangig gegen Linke und erklärte Laizisten richtete. Im Juli 2016 kam es zum Putschversuch von Teilen der Armee. Er wurde der Gülen-Bewegung zugeschrieben, einer ursprünglich Erdoğan zugewandten islamistischen Strömung mit etwa acht Millionen Anhängern.Auch sie verfügt über international ausgedehnte Wohlfahrts- und Bildungsnetzwerke. Fethullah Gülen, der mehr Rechte für die kurdische Kultur fordert und das militärische Engagement in Syrien, später dann in Libyen kritisierte, befand sich zur Zeit des Putschs bereits im US-Exil, wo er als Vertreter eines demokratiekompatiblen Islam gilt. Nach der Niederschlagung des Putschs setzte Erdoğan Albanien, Bulgarien, den Kosovo und Bosnien-Herzegowina unter Druck, die dort von Gülen unterstützten Lehranstalten zu schließen. Obwohl es die vom laizistischen System geerbten Kontrollorgane Erdoğan zunächst erleichterten, die religiösen Institutionen und Vereine auf seine Person zu fokussieren, gelang das nicht dauerhaft. Deshalb veranlasste er 2017 eine Verfassungsänderung, um sich durch ein Präsidialsystem noch mehr Befugnisse zu verschaffen. Dass die Ära des politischen Islam in der Türkei noch nicht vorbei ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Erdoğan herausfordernde Wahlallianz aus zumeist konservativen und sogar islamistischen Parteien besteht. Zum nunmehr 100-jährigen Bestehen der Republik musste der türkische Präsident auch Kemal Atatürk seine Reverenz erweisen. Ein Zeichen dafür, dass der Laizismus noch nicht geschlagen ist.
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