Der 1948 mit seiner Familie aus West-Jerusalem vertriebene Edward Said ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der gewichtigste theoretische Kritiker des Eurozentrismus gewesen, den man seit Huntingtons Clash of Civilisations besser "Westzentrismus" nennen sollte. 1978 trat Said mit seinem grundlegenden Werk über den Orientalismus hervor. 1993 erschien das gegen die Vorstellung einer westlichen Kulturmission gerichtete, viel zu wenig rezipierte Buch Kultur und Imperialismus. Der an der Columbia-University lehrende Wissenschaftler starb 2003 als vielfach ausgezeichnete, hochangesehene Persönlichkeit. Damit repräsentierte er die in den USA - im Gegensatz zur ganz von der Restauration eingeholten Wissenschaftslandschaft Europas - immer noch erhaltene Polarität widerstreitender Grundwerte. Said war zehn Jahre lang Mitglied des palästinensischen Nationalrats gewesen. Er verließ ihn 1991, weil ihm die Ergebnisse des Osloer Friedensvertrags nicht tragfähig erschienen und weil er mit der auf diesem Vertrag basierenden Führerschaft Arafats nicht einverstanden war.
Mit einem Vortrag über "Freud und das Nichteuropäische", den er kurz vor seinem Tod im Londoner Freud-Museum hielt, offenbarte er eine wesentliche Quelle seiner eigenen psychoanalytisch grundierten Arbeiten. Said analysierte Freuds widersprüchliches Verhältnis zu seinem eigenen Judentum als Beispiel von Identitätsfindung, das in der heutigen globalisierten Welt vorbildhaft sein könnte. Er erinnerte daran, dass Freud in seinem letzten Werk Der Mann Moses und die monotheistische Religion in der Moses-Legende des alten Testaments mehrere skandalträchtige kollektive "Verdrängungen" ans Licht hob: Moses sei in Wirklichkeit Ägypter gewesen - ein religiöser Nachfahre des Echnaton, des eigentlichen Erfinders des Monotheismus. Die Stämme Israels, deren Identität Moses im Namen des einzigen Gottes begründet habe, hätten ihn als "Angehörigen und Ausgeschlossenen" gesehen und schließlich getötet. Freud begann sein Buch, indem er unverfroren darauf hinwies, dass er es im Dienste der "Wahrheit" unternehmen müsse "einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt" um dann fortzufahren, eine derartige Großtat werde nicht "gern oder leichthin" unternommen, "zumal, wenn man selbst diesem Volke angehört".
Freud verlegte den Übergang der Juden zum Monotheismus ins Gebiet der teils auf dem Sinai, teils in der westlichen arabischen Halbinsel lebenden arabischen Midianiter, deren Gott Jahwe von den israelitischen Stämmen übernommen worden sei. Damit hätte Freud konstatiert, dass die Vorstellung einer reinen Identität oder Abstammung der Juden Illusion sei.
Sein Versuch, den Nebel der Legende mit psychoanalytischen Mitteln zu zerstreuen und der historischen Wahrheit näher zu kommen, hatte Konsequenzen für seine Haltung zum Zionismus. 1930 weigerte er sich, einen Aufruf der Jewish Agency zu unterschreiben, der die britische Regierung aufforderte, mehr Einwanderer nach Palästina lassen. "Er ging sogar so weit, den Versuch zu verurteilen, ein "Stück der Mauer des Herodes [in] eine nationale Reliquie" umzudeuten, weil dadurch die Gefühle der Einheimischen herausfordert würden. Erst der staatlich sanktionierte Antisemitismus Hitlers brachte Freud zu einer freundlicheren Haltung gegenüber einer Heimstatt der Juden in Palästina.
Said lässt keinen Zweifel, dass Freud selbst noch Eurozentrist war und auch kaum etwas anderes hätte sein können, da er noch vor Kriegsbeginn und vor allem auch vor Beginn der Entkolonisierungsphase starb. Die Konsequenzen heutiger Mobilität, die zum alltäglichen Zusammenleben von Europäern und Nichteuropäern im großen Maßstabe geführt hat, waren außerhalb seines historischen Horizonts. Es war wohl auch ein Reflex auf die faschistische Behauptung, die Juden seien "asiatisch" und "fremd", dass Freud auf ihrem Europäertum bestand und zwar deshalb, weil sie seit der Römerzeit in Europa lebten. Er begriff sie nicht als ethnische Einheit, sondern als Erbe verschiedener Mittelmeervölker. Auch weigerte er sich, eine hermetische Barriere zwischen Europäischem und Nichteuropäischem zu ziehen, wofür nicht nur seine Interpretation der Mosesfigur spricht. Schon in Totem und Tabu versuchte er aufzuzeigen, dass grundlegende Eigenschaften, Haltungen und Empfindungen allen Menschen gemeinsam sind. Seine Position gegenüber dem Zivilisationsprozess blieb kritisch und bewusst ambivalent: eine seiner wichtigsten Erkenntnisse war, dass alles, was in diesem Prozess verloren zu gehen scheint, irgendwann wieder an die Oberfläche drängt.
Auch in Freuds permanente Sorge, die Psychoanalyse könnte als ausschließlich oder spezifisch jüdische Wissenschaft missverstanden werden, ist sein Universalismus zu erkennen. Jaqueline Rose, eine mit mehreren Werken über Sexualität und Psychoanalyse hervorgetretene Professorin, die Saids Vortrag eine Replik hinzufügte, wies darauf hin, dass Freud zu denjenigen jüdischen Intellektuellen gehörte, die die Fortentwicklung des Universalismus als spezifisch jüdischen Beitrag zur modernen Aufklärung begriffen. Sie sahen sie durch die Rekonstruktion von Nationalismen und Rassismen zu Recht in Gefahr. Im Gegensatz dazu steht die auf Theodor Herzl fußende Tradition, die den Antisemitismus als Konstante der Weltgeschichte begreift mit der Konsequenz, dass sich das Judentum selbst zur Nation erheben und von anderen Nationen abgrenzen müsse. Dass diese gegensätzlichen Strömungen auch zwei gegensätzliche Konstruktionen von Identität nach sich ziehen, liegt auf der Hand. Freud selbst ging so weit zu behaupten, dass er, obwohl er sich ganz als Jude fühle, dies wahrscheinlich eher auf Eigenschaften beruhe, die gemeinhin nicht mit Jüdischem identifiziert werden. Er gab zu, diese Eigenschaften noch nicht einmal eindeutig definieren zu können. Ebenso wenig wie als Individuum wich er als Wissenschaftler Widersprüchen aus. Seinen Patienten wollte er beibringen, mit Widersprüchen anstatt tröstlicher Fiktionen zu leben.
In diesem Sinne konfrontiert Said Freuds wissenschaftliche Haltung mit der israelischen Archäologie, deren Ziel es sei, durch die Konzentration auf jüdische - oder vermeintlich jüdische - Artefakte eine Kontinuität jüdischer Hegemonie im nahöstlichen Raum vorzugaukeln, um damit ein Staatsgebilde ungleichen Rechts zu legitimieren. Die jüngere, sich auf die reichhaltigen dörflichen Ablagerungen aus antiker Zeit konzentrierende palästinensische Archäologie sei dagegen die wirkliche Erbin Freuds. Diesem zufolge müssten sich Juden und Palästinenser nicht als Gegner, sondern als Teile einer größeren Einheit betrachten.
So sehr Jacqueline Rose mit Saids Einschätzung von Freuds konfliktuellem Identitätsverständnis übereinstimmte, warnte sie doch eindringlich vor optimistischen Hoffnungen. Die am häufigsten verbriefte Reaktion auf Traumata sei die Wiederholung, beziehungsweise Imitation der Taten, die ihre Ursache waren. Die Juden seien vom Holocaust und die Palästinenser durch die Vertreibung so tief traumatisiert, dass beide in Gefahr einer sich verewigenden Wiederholungsschleife stünden.
Zu Saids Ausführungen sei hinzugefügt, dass Freud die ägyptische Abstammung von Moses nicht erfunden hat. Obwohl sich der Islam zunächst auch als Religion bestimmter Stammesverbände entwickelte, war er im Gegensatz zum Judentum von vornherein universalistisch konzipiert. Er schrieb der ethnischen Abstammung von Moses keine Bedeutung zu. Mit dem Hinweis auf seine besonders dunkle Hautfarbe wird jedoch suggeriert, dass er Ägypter nubischer Abstammung war. (Philologisch ist er sogar als Abkömmling der Pharaonen erkennbar, bei denen der Name Tutmosis verbreitet war.) Die Menschengruppe, die Moses zum Monotheismus führte, wurde vom Islam nur sozial definiert, nämlich als überausgebeuteter Teil des Volkes. Der Übergang zum Monotheismus - hinter dem ja vor allem die Einigung auf einen einheitlichen Gesetzeskodex steht - erhält hier die allgemeine Konnotation der weltanschaulichen Einigung von zuvor disparaten und untereinander gespaltenen Menschengruppen.
Edward W. Said: Freud und das Nichteuropäische. Mit einer Einführung von Christopher Bollas und einer Replik von Jacqueline Rose, Dörlemann, Zürich, 2004,
96 S., 16,80 EUR
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