Am 20. Juli hatte das ägyptische Parlament den Weg für eine Militäroperation im Nachbarland Libyen frei gemacht. Es sollte verhindert werden, dass von der Türkei unterstützte Milizen der in Tripolis residierenden Regierung weiter in Gebiete vordringen, in denen bis dahin die Gegenregierung von General Haftar und dessen Nationalarmee (LNA) das Sagen hatten. Man hoffte, die ägyptische Streitkräfte und die LNA würden motivierter kämpfen als die aus ehemaligen IS- und Al-Qaida-Kombattanten sowie türkischen Militärs zusammengewürfelten Einheiten. Doch dann rief das sich abzeichnende Eingreifen Kairos einen Akteur auf den Plan, der sich im Machtpoker um Libyen auffällig zurückgehalten hatte: die USA. Präsident Trump hatte zuweilen anklingen lassen, dass seine Regierung den die LNA befehlenden Khalifa Haftar bevorzuge.
Schüsse auf Demonstranten
Nun wurde Richard Norland, US-Botschafter in Libyen, mit einer diplomatischen Mission beauftragt. Am 11. August einigte er sich in Kairo mit Aguila Salah Issa, dem Präsidenten des Parlaments von Tobruk, auf Vorschläge zu einer Waffenruhe. Deren Konditionen entsprachen weitgehend den Vorstellungen des Mannes aus der Kyrenaika. Da Fayiz as-Sarradsch, Regierungschef in Tripolis, das Vorgehen der USA notgedrungen hinnehmen musste, kam es am 21. August zur Verkündung des bislang vielversprechendsten Waffenstillstandes seit 2011. As-Sarradsch und Aguila Salah Issa erklärten gleichzeitig dessen Inkrafttreten und stellten Präsidenten- und Parlamentswahlen sowie ein Verfassungsreferendum in Aussicht. Sie teilten ebenso mit, dass die Erdölförderung wieder aufgenommen werde. Eine besonders kluge Klausel des Agreements besagt, die Erlöse aus dem Verkauf des Rohstoffs so lange einzufrieren, bis der versprochene politische Prozess in Gang kommt. Das kann ihn beschleunigen und die – besonders von der Türkei eingeforderte – Entlohnung der für Tripolis kämpfenden Söldner empfindlich einschränken. Dass nicht libysche Kämpfer aus dem Land abziehen sollen, haben beide Parteien ebenfalls bekräftigt.
Unterschiedlich definieren Tripolis und Tobruk die Zukunft von Sirte, der Stadt mit dem wichtigsten Ölhafen, den die LNA besetzt hält und vor dem die Truppen As-Sarradschs zum Stehen kamen. Der Premier in Tripolis möchte Sirte entmilitarisieren, angeblich um der nationalen Erdölgesellschaft die volle Souveränität zu gewährleisten. Das dürfte für die andere Seite kaum akzeptabel sein. Sie schlägt vor, dass die Sicherheit Sirtes durch Truppen aus ganz Libyen garantiert und die Stadt zum neuen Regierungssitz erklärt wird.
Die durch das Zusammenspiel Ägyptens und der USA möglichen Optionen haben die von der UNO anerkannte Regierung in Tripolis augenscheinlich so geschwächt, dass es dort Männer und Frauen endlich wagen konnten, zu demonstrieren. Sie forderten den Abzug von Söldnern und ausländischem Militär sowie eine sichere Strom- und Wasserversorgung. Premier as-Sarradsch hatte stets nur Kundgebungen erlaubt, von denen zu erwarten war, dass sie sich jeder Kritik an der Türkei enthalten. Ob das zutraf oder nicht – zuletzt wurde mehrfach auf Demonstranten geschossen, was die UN-Sondermission für Libyen, die Kritik an as-Sarradsch immer vermieden hatte, zu energischen Ermahnungen veranlasste. Der wusste sich nicht anders zu helfen, als eine Ausgangssperre zu verhängen, die er mit der Ansteckungsgefahr durch Covid-19 begründete.
Diese und andere Entwicklungen im Nahen Osten und in Nordafrika scheinen der EU mehr und mehr zu entgleiten, wie das dem für die internationale Militärmission überraschenden Putsch in Mali zu entnehmen war. Dass man trotz anderslautender Versprechen der Berliner Libyen-Konferenz im Januar die Militäroperation der Türkei nicht zu verhindern suchte, sondern in Kauf nahm, wirft die Frage auf, ob Ankara nicht als Vorreiter europäischer Interessen gesehen werden muss. Dass dabei die mutmaßlichen europäischen Werte nicht weiter von Belang sind, liegt auf der Hand – ob in der Türkei selbst, in Libyen oder Mali. Trotz hin und wieder geübter Kritik an der Regierung Erdoğan wird sie von Sanktionen verschont, weil es offenkundig auch um eine verschwiegene Partnerschaft mit der internationalen Moslembruderschaft geht. Diese findet nicht nur in Katar, sondern ebenso in Ankara viel Rückhalt.
Verpönte Sozialarbeiter
Die in Ägypten Anfang der 1920er Jahre entstandene religiöse Gemeinschaft setzt sich bis heute für ein System der Sozialhilfe ein, in das Unternehmer nach eigenem Ermessen einzahlen, während die Disziplin der Arbeitenden und Arbeitslosen gegenüber den ökonomisch Mächtigen durch rigide religiöse Regeln gesichert wird. Da von Steuern für ein gesellschaftliches Solidarsystem nichts im Koran steht, wird es von den Moslembrüdern abgelehnt. Ein Charity-System anstelle eines modernen Steuerrechts wünscht sich auch der Neoliberalismus, weshalb er mit Moslembruderschaften durchaus kooperieren kann. Die Partnerschaft kann so weit gehen, dass Moslembrüder, wenn sie Wahlen gewinnen wie Mohammed Mursi 2012 in Ägypten, gern als „demokratisch legitimiert“ bezeichnet werden. Da aber Mursi und sein Anhang die sozialen Erwartungen der Ägypter nicht erfüllten, zumal diese auf eine lange Geschichte religiöser Toleranz zurückblicken, konnte sich der durch einen Putsch an die Macht gelangte und bis heute als „Diktator“ firmierende General Abd al-Fattah as-Sisi durchsetzen. 2014 ließ er sich wählen und gewann, was international nicht anfechtbar war.
Auch in Libyen ist die Abneigung gegen die Moslembrüder im Übrigen erheblich. Der eigene Glaube hat sufistisch-beduinische Wurzeln, zudem wird dank des Erdölreichtums kein umfangreiches System der Armenversorgung benötigt.
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