Noch kein Rechtsstaat

Algerien Dem Verfassungsreferendum Anfang November droht statt reger Beteiligung ein Boykott der Bürger
Ausgabe 40/2020

Es ist der Tag, an dem 1954 der bewaffnete Aufstand gegen die französische Kolonialmacht begann. Nun hat die Regierung von Präsident Tebboune für den 1. November das Referendum über eine neue Verfassung angesetzt. Der Entwurf dieser Magna Charta gibt sich betont volksnah. Schon in der Präambel wird versichert, dass man sich am „Hirak“ orientiere. Gemeint ist die seit Anfang 2019 das Land erfassende Demokratiebewegung, wie sie besonders mit den großen Freitagsdemonstrationen zum Ausdruck kam. Der „Hirak“ hatte einen Systemwandel verlangt, der zu einem Rechtsstaat führt und damit zu seiner Autorität, mit der sich Korruption und Vetternwirtschaft wirklich eindämmen lassen.

Mysteriöser Ausverkauf

Wegen der auf die Corona-Pandemie zurückgehenden Einschränkungen pausiert der „Hirak“ seit März. Aus demselben Grund konnte auch die reformierte Verfassung allein in den Medien diskutiert werden. An der Ausarbeitung waren nur langgediente Staatsbeamte beteiligt. Während die Staatsmedien das Projekt loben, meinen unabhängige Blätter, damit versuche der Machtapparat, den „Hirak“ zu vereinnahmen. Der vorliegende Text ziele nicht auf mehr, sondern weniger Demokratie und werde vorzugsweise die Macht des Präsidenten stärken. „Die Wählerschaft aufzurufen, eine Verfassung zu billigen, die von einer Verwaltung stammt, welche verantwortlich für den Ruin des Landes ist, das stellt eine Provokation dar“, sagt Mohcine Belabbas, Parteichef des Rassemblement pour la Culture et la Démocratie.

Der Ende 2019 nur mit sehr schwacher Wahlbeteiligung zum Staatschef gewählte Abdelmadjid Tebboune hat seitdem kaum an Prestige gewonnen. Und das, obwohl es unter ihm zu einer für Algerien exemplarischen Verfolgung und Bestrafung von Verbrechen kam, die in der Amtszeit von Präsident Bouteflika verübt wurden, als eine neoliberale Politik und Wirtschaft regelrecht fusionierten. Jetzt droht seinem Verfassungsprojekt weitgehender Boykott, weil die Bürger im Entwurf nicht den erhofften rechtsstaatlichen Fortschritt verankert sehen.

Am 31. August konnte niemand die Zeitung El Watan am Kiosk erwerben, weil viele Exemplare schon zu frühester Morgenstunde von mysteriösen Einzelpersonen abgekauft waren. Als am Mittag dann die Online-Version veröffentlicht war, ahnte die Leserschaft, welchen Grund es dafür gab. Das Blatt hatte einen Artikel über die kolossalen Besitztümer der Söhne von Gaïd Salah publiziert, dem Ende 2019 verstorbenen Oberbefehlshaber der Armee. Die Informationen dazu stammten aus dem Ermittlungsverfahren, das gegen die Brüder Adel und Boumediène Salah seit dem 18. August läuft. Laut den El Watan zugespielten Informationen hat Letzterer seit 2013 Tausende Tonnen subventionierten Getreides für eine Verarbeitungsanlage gekauft, die erst 2016 in Betrieb ging. Also wurde das Rohgetreide mit hohem Gewinn weiterverkauft. Ähnliche, den Staat schädigende Dreiecksgeschäfte gab es viele, während die Familie von Gaïd Salah ganz offiziell von einer Großbäckerei lebte und die Kasernen mit Brot versorgte – ebenfalls ein enormes, sehr merkwürdiges Geschäft. Ein Schwager der Brüder, ein Arzt, hatte ein von ihm erworbenes Terrain, das für eine Klinik ausgeschrieben war, in Bauland verwandelt, auf dem nun bereits Villen zum Verkauf stehen. Möglich wurde das alles, weil verantwortliche Beamte die Genehmigungen erteilten, um „nicht in Ungnade zu fallen“.

Der Schatten des Generals

Empfindliche Haftstrafen für derlei Delikte zählen seit dem von Gaïd Salah maßgeblich betriebenen Sturz Abd al-Aziz Bouteflikas im März 2019 zum Alltag Algeriens. Mutmaßlich wurde die bewusste Ausgabe von El Watan durch die Familie Salah requiriert, was einen Tag später auch der Staat sanktionierte. Begründung: Neben dem Aufmacher habe es auf der Titelseite ein Porträt von General Gaïd Salah in voller Uniform gegeben. Dies hätte „dem Ansehen der Armee geschadet“. Auf unbestimmte Zeit wurden El Watan Anzeigen öffentlicher Unternehmen entzogen. Obwohl Chefredakteur Tayeb Belghiche betonte, dass die Zeitung seit eh und je „die Nationale Volksarmee (sic) als Wirbelsäule des algerischen Staates und als wichtigsten Garanten des Rechtsstaats“ sehe, muss er demnächst vor Gericht erscheinen.

Nach Ansicht vieler Aktivisten des „Hirak“ zeigt dieser Vorgang, dass die Machenschaften der Familie Gaïd Salahs nicht nur einen langen Schatten auf diese selbst werfen, sondern auch auf Präsident Tebboune, den Wunschkandidaten des verblichenen Generals. So verstärkt sich der schon lange schwärende Verdacht, dass die Korruptionsprozesse nur auf einen Teil der Clanwirtschaft zielen, während sich der andere zu schützen weiß, um an der Macht zu bleiben. Die Ermittlungen gegen die Familie Salah wirken wie ein Unfall.

Zu Tebbounes Ungunsten wirkt sich ebenfalls aus, dass er den Journalisten Khaled Drareni als Spion bezeichnete und damit auf ein juristisches Verfahren politisch Einfluss nahm, dass es rechtsstaatlichen Normen zum Hohn gereicht. Drarenis Anwälte erklärten dazu, in der Anklage sei von Spionage keine Rede gewesen, vielmehr wurde ihrem Mandaten seine journalistische Arbeit angekreidet. Er berichtete über den „Hirak“ für den französischen Sender TV5, wofür er keine Akkreditierung besessen habe. TV5 teilte daraufhin mit, für die beanstandeten Aufnahmen habe es eine Drehgenehmigung gegeben. Und ob ein algerischer Journalist im eigenen Land eine Akkreditierung benötige, sei noch die Frage. Dass diese überhaupt aufgeworfen ist, deutet die unabhängige Presse, inklusive der sozialen Medien, als Bedrohung der Informationslandschaft. Sie hat dazu Anlass genug, da sich das Staatsfernsehen noch peinlicher als zu Zeiten Bouteflikas als Verlautbarungsorgan der Regierung empfiehlt.

Khaled Drareni wurde zu drei Jahren ohne Bewährung verurteilt, was ein Berufungsgericht am 15. September auf zwei Jahre reduziert hat. Zwar sind viele Aktivisten des „Hirak“ nach kurzer Haft wieder entlassen worden, doch gibt es momentan 62 Personen, die aus politischen Gründen für länger in Gefängnis sitzen.

Omar Belhouchet, der mit vielen internationalen Auszeichnungen geehrte Ex-Chefredakteur von El Watan, sagte auf einer Pressekonferenz der Anwälte Drarenis: „Die Repression gegen die Gesellschaft im ganzen Land hat zugenommen. Auf nationalem und internationalem Niveau wurde viel für die Befreiung von Khaled Drareni unternommen, aber der offizielle Diskurs will davon nichts wissen. Er zeigt eine Härte, die offenbart: Man will nicht zurückweichen. Brauchen wir nicht die Rückkehr des ,Hirak‘ und Massendemonstrationen, um eine festgefahrene Situation für Khaled und andere Verhaftete aufzulösen?“

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