Prädikat sicher

Asyl Was die Bundesregierung als „sicheres Herkunftsland“ erachtet, orientiert sich nicht an Menschenrechten. Denn in Algerien, Tunesien und Marokko sind diese nicht viel wert
Ausgabe 06/2016
Meinungsfreiheit in Algerien
Meinungsfreiheit in Algerien

Foto: Farouk Batiche/AFP/Getty Images

Dass die Verleihung des Prädikats „sicheres Herkunftsland“ durch die Bundesregierung nicht menschenrechtlichen, sondern pragmatischen Motiven folgt, wurde schon 2015 klar, als es Albanien, Kosovo, Montenegro und Serbien zufiel. Im Vorjahr bewarben sich viele Menschen vom südlichen Balkan um Asyl. Sinti und Roma, deren Bürgerrechte in den genannten Staaten häufig verletzt werden, können sich seither nicht mehr darauf berufen, einer verfolgten Gruppe anzugehören. Sie müssen individuelle Verfolgung nachweisen, wenn sie um politisches Asyl bitten. Analog dazu hat die geplante Abschiebung von Tunesiern, Algeriern und Marokkanern kaum etwas damit zu tun, dass ihre Heimatstaaten plötzlich zu dem wurden, was unter sicheren Herkunftsländern verstanden wird.

Tatsächlich sind die Kriterien für eine solche Einstufung weder im Grundgesetz noch im europäischen Recht klar definiert. In Deutschland gelten seit dem Asylkompromiss von 1992 Staaten als sichere Herkunftsländer, bei denen „gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche und erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfinden“. Man verstand darunter ausschließlich staatliche Verfolgung. Nur wurden in Algerien damals schon Intellektuelle und laizistisch eingestellte Bürger systematisch von islamistischen Banden verfolgt. Mit der Begründung, die Islamische Heilsfront (FIS) habe 1991 die Wahlen gewonnen, wurden deren Vertreter von der EU als Freiheitskämpfer anerkannt und erhielten eher politisches Asyl als von ihnen gejagte Laizisten. Erst als Frankreich mehrfach von Attentaten islamistischer Algerier betroffen war, änderte sich die europäische Asylpraxis.

Aber wie sieht es heute in Algerien und seinen Nachbarstaaten aus? Kann man Menschen dorthin zurückschicken, die in Europa Asyl oder Duldung suchen? In allen drei Gesellschaften existiert ein pluralistisches System, aber stärker noch als im Westen sind Parteien eher Klientelvereine, die bei der Jugend so gut wie kein Vertrauen genießen, da sie nicht in der Lage sind, jungen Men-schen Arbeits- und Lebensperspektiven zu bieten.

Algerien hat seit Jahren durch Exportüberschüsse bei Öl und Gas die Chance, sein Wirtschaftssystem so umzugestalten, dass es der Wohlfahrt aller dient. Doch bleiben bis heute große Infrastrukturprojekte weitgehend ausländischem Personal überlassen. Um ein erneutes Abgleiten in Zerreißproben wie den Bürgerkrieg nach 1991 zu verhindern, wurden schlecht bezahlte, unproduktive Arbeitsplätze geschaffen, die Jugendliche weder verhungern noch satt werden lassen. Folglich träumen sie vom Leben in Europa. Wenn tunesische Jugendliche immer wieder zur algerischen Grenze marschieren und rufen: „One-two-three – viva l’Algérie“, zeigt das, wie froh sie wären, die dortige Möglichkeit eines 100-Euro-Jobs zu bekommen. Das gilt ebenso für Marokkaner.

Gewiss, es gibt derzeit weniger politische Repression. Aber findet auch weniger „unmenschliche und entwürdigende Behandlung“ statt? Wenn sich Widerstand nicht politisch organisieren kann, artikuliert er sich als Kriminalität und Gewalt. Und in Polizeigewahrsam winkt nordafrikanischen Jugendlichen keine Resozialisierung, sondern eine oft entwürdigende Behandlung. Dies gilt besonders für Tunesien, das am Rande eines Bürgerkriegs steht. So musterhaft in diesem Maghreb-Staat der Übergang zu einem demokratischen System gelungen scheint, so wenig hat sich am Leben der Ärmsten und Armen geändert.

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