Komm mal her", rief mich mein Vater hinter die Wohnzimmergardine, "der L. verkauft sein Auto!" Tatsächlich turnte Herr L. mit einem Fremden um seinen Wartburg-Kombi herum. Der Fremde zückte rasch die Brieftasche, übergab Herrn L. einen Packen Geldscheine und fuhr sofort los. "Wieviel wird er ihm gegeben haben?" sinnierte mein Vater. "Er muss das 1:5 tauschen. Mehr als 5000 Westmark kommen da nicht heraus. Aber für den Anfang ist das ganz schön!"
Ich aber weinte hinter der Gardine. Ich wusste, dass ich meine beiden Lieblingsfreundinnen verlieren würde, die Nachbarskinder Trixi und Benita. Offiziell waren sie vor einer Woche in den Urlaub gefahren, saßen aber garantiert bei Tante Viktoria im Steglitzer Garten und schlugen sich den Bauch voll mit Westschokolade, kapitalen Torten und Schlagsahne. Mit Tante Viktoria war der lebensoptimistische Westen der fünf ziger Jahre regelmäßig auch in unseren Nachbargarten eingefallen. Zu den rauschenden Festen, die sie mit Petticoats, Federball, Coca Cola und Gummibärchen aufrüstete, war ich stets eingeladen, obwohl ich Kind eines SED-Mitglieds war. Da sich meine Mutter westlich kleidete, hielten die L.s meine Eltern wohl für vernünftig genug, über kurz oder lang ebenfalls einzusehen, dass die Zukunft im Westen lag und nicht unter der Fuchtel der sowjetischen Besatzungsmacht. Dass diese das Allerletzte repräsentierte, was sich normale Menschen wünschen können, war nirgendwo in Berlin augenfälliger als bei uns in Karlshorst. Wir wohnten direkt neben dem eingezäunten Sperrgebiet, in dem die sow jetischen Offiziersfamilien untergebracht waren. Während die offizielle Propaganda stur behauptete, dass die Sowjetunion uns zivilisatorisch überlegen sei, konnten wir mit unseren eigenen Augen sehen, dass diese Barbaren noch nicht einmal Gardinen hatten und die schönen Bürgerwohnungen verkommen ließen. Zwar prunkten ihre Frauen mit aufdringlichen Goldzähnen im Mund, aber an ihren Fensterscheiben klebte die Prawda.
Wir hatten die Flucht des Herrn L. erwartet - genau zu diesem Zeitpunkt. Er war berechenbar, weil L. zu jenen Leuten gehörte, die mit Steuergeldern der Arbeiter und Bauern an der Hochschule in Dresden kostenlos studiert und im Sommer 1961 ihr Diplom abgeschlossen hatten. Mehr als ein Drittel der Absolventen dieser Einrichtung trat aber nie eine Arbeit für die Arbeiter- und Bauernmacht an. Kaum hatte man die im Westen hoch angesehenen Diplome in der Hand, verschwand man ins damalige Wachstums-Wunder-Westdeutschland.
Mein Vater hätte zum Telefon greifen, Herrn L. denunzieren und ins Gefängnis bringen können, bevor er sich in die S-Bahn setzte und nach 30 Minuten mit seinen Ostmark in Westberlin ankommen würde. Aber mein Vater war kein Denunziant. Er gehörte zu den Masochisten, die ernsthaft meinten, dass Deutschland gegenüber der Sowjetunion eine Wiedergutmachungsschuld zu erbringen hätte und dies am besten im gemeinsamen Aufbau des Sozialismus geschehen könnte. Er sah auch, dass dieses Unternehmen nicht mit lügnerischer Propaganda und Augenauswischerei gelingen konnte. Das sozialistische Experiment auf deutschem Boden, das von ihm zugleich als historischer Versöhnungsakt begriffen wurde, dauerte noch keine zehn Jahre. Wer in historischen Dimensionen dachte, dürfte noch optimistisch sein. Als Intellektueller verübelte es mein Vater jedoch keinem, der nicht sein halbes Leben verwarten wollte. Die Attraktivität des westdeutschen Kapitalismus lag nun einmal darin, dass er Wohlstand nicht für irgendwann versprach, sondern sofort.
Wie fast alle anderen Republikflüchtlinge damals auch, hat sich Herr L. in Westberlin sicher als politischer Emigrant ausgegeben, nicht etwa als Wirtschaftsflüchtling. Dabei ist er, um sein Diplom in Dresden abschließen zu können, dort zweifelsohne niemals als Kämpfer für "Recht und Freiheit" aufgetreten, sondern wahrscheinlich nur als wortkarger Mitläufer. Empfohlen wurde ihm die Selbstbezeichnung als politischer Flüchtling von den westlichen Rundfunk- und Fernsehsendern, deren wichtigstes Thema die politische Unfreiheit in der Ostzone war. Gegen diese kämpften aber in Wirklichkeit nur wenige Helden. Für die meisten der drei Millionen Flüchtlinge bedeutete der Begriff "Unfreiheit" schlicht und einfach, nicht wie ihre westlichen Brüder und Schwestern konsumieren zu können. Der politisch-ökonomische Doppelsinn war von den Medien damals durchaus beabsichtigt. Heutige, aus ferneren Weltgegenden kommende Flüchtlinge können von dieser freundlichen Unschärfe des Begriffs nicht mehr profitieren. Die freie Zirkulation der wertvollsten mobilen Arbeitskräfte wird seit dem Ende des Feudalismus immer nur dann zum grundlegenden Menschenrecht erklärt, wenn das Kapital sie in größerer Zahl gebrauchen kann. Da der Wirtschaftsstandort Deutschland sie zur Zeit auch dann nicht braucht, wenn sie höchste Diplome vorweisen können, unterscheidet man jetzt streng in politische und Wirtschaftsflüchtlinge.
Kurze Zeit nach der Flucht der Familie L. wären meine Eltern und ich beinahe auch noch als "politische Flüchtlinge" in Westberlin gelandet. Freunde besuchten uns in Panik und legten drei S-Bahnkarten für je 20 Pfennig auf den Tisch, womit wir uns schleunigst in Sicherheit bringen sollten. Mein Vater hatte einem jungen Freund Chinin verschafft, damit dessen Freundin abtreiben konnte. Die war aber gar nicht schwanger, wollte nur eine Heirat erpressen. Als das nicht gelang, dampfte sie nach Westberlin ab, als politischer Flüchtling natürlich. Vorher aber denunzierte sie nicht nur ihren Freund, sondern auch meinen Vater und den befreundeten Chefarzt, der das Chinin geliefert hatte. Ihr heiratsunwilliger Freund rettete sich ebenfalls in den Westen: Mein Vater und der Chefarzt aber standen auf dem Standpunkt: "Egal, was passiert. Deswegen gehen wir doch nicht rüber!" - Mein Vater verlor seine Stellung im Sekretariat für Hochschulwesen, der Chefarzt seine Chefarztposition. Die Partei, die sich wahrscheinlich wunderte, dass die beiden nicht verschwunden waren, schloss sie nicht aus. Aus solchen Vorgängen schöpfte man Ende der fünfziger Jahre den Optimismus, dass der Stalinismus in seinen schlimmsten Formen überwunden war. Tatsächlich wurde der Arzt einige Jahre später wieder Chefarzt, und mein Vater konnte eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen.
Im Frühsommer 1961 dann drangen beunruhigende Gespräche aus dem Ehebett meiner Eltern zu mir. Wegen Platzmangels musste ich im selben Zimmer schlafen. Wie ein Erstickender flüsterte mein Vater von einer Mauer, die Walter Ulbricht mitten durch Berlin ziehen wollte. Meine Mutter flüsterte hysterisch, dass sie die 50 Mark/West, die sie monatlich von ihrem Vater aus Schleswig nach Westberlin überwiesen bekam, in diesem Fall nicht mehr nutzen könnte. Vorbei, dachte ich traurig, sind die netten Samstagsspaziergänge am Kurfürstendamm. Wir besuchten dort zwar vor allem die für ein Kind eher langweiligen Buchhandlungen. Aber immer war für mich doch auch eine Tafel Sarotti aus dem Automaten herausgesprungen. - Man konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es zum Bau einer Mauer kommen würde. Wenige Tage später musste mein Vater als Mitglied der "Kampfgruppen der Arbeiterklasse" die Mauer dann sogar selber mit hochziehen. Die DDR-Propaganda bezeichnete sie als "antifaschistischen Schutzwall". Obwohl Justiz und Verwaltung der Bundesrepublik damals tatsächlich noch voller ehemaliger Nazis waren, wusste doch jeder denkende Mensch, dass von dort keineswegs ein neuer Faschismus drohte, sondern die Einführung von Kapitalismus in recht bürgerfreundlicher Form. Weder wirtschaftlich noch politisch war das ein Kapitalismus, wie er in unseren heiligen Büchern stand. Er bot nicht nur mehr Wohlstand, sondern auch mehr Mitbestimmung und nicht zuletzt - das war für mich wichtig - auch Weltoffenheit.
Angesichts der fortgesetzten Stilisierung der Wirtschaftsflüchtlinge zu politischen Helden, ist es mir sehr wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Mauer zuallererst aus ökonomischen Gründen gebaut wurde. Sie sollte den Sog des schnellen Wohlstands, zu dem man im westlichen Teil Deutschlands kommen konnte, abbinden. In diesem Sinne war sie eine brutale Zwangsmaßnahme gegen die eigene Bevölkerung - jedoch auch Teil jenes utopischen Versuchs, einen "zweiten Weltmarkt" herzustellen - einen alternativen Markt der Leistungsschwächeren dieser Welt. Hätte er glücken können, wenn man die Dinge beim Namen genannt und Demokratie in Gang gesetzt hätte? Hätte man zugeben sollen, dass wir die Ärmeren waren und noch lange bleiben würden?
Statt dessen tönte es honigsüß: Überholen, ohne einzuholen. Als wäre das mit tiefem Luftholen nächsten Donnerstag möglich gewesen. Dabei ist der utopische Versuch nicht zuletzt an den eigenen Eliten gescheitert, an denen, die diesen alternativen Markt eigentlich errichten wollten. Wer einmal eine den westlichen Diplomen etwa gleichwertige Bildung (kostenlos) erworben hatte, litt selbstverständlich darunter, dass sein Lebensstandard deutlich unter dem der Berufskollegen im Westen lag. Der Mangel an Demokratie hatte außerdem einen gefährlichen Mangel an aktueller Weltkenntnis gerade bei diesen Eliten zur Folge.
Egal, ob man geisteswissenschaftliche oder technische Bildung erhalten hatte, vom alternativen zweiten Weltmarkt hatte kaum jemand gehört, geschweige denn von dessen Bedeutung. Er hieß RGW - Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe - und dümpelte vor sich hin. Ein normales RGW-Mitglied verschacherte an den ersten, den westlichen Weltmarkt, alles, was sich dort eben verschachern ließ. Den Rest tauschte man untereinander im RGW. Die Eliten selbst erlagen dem Sog des ersten Weltmarkts. Der war so mächtig, dass der erwartete und mehr und mehr auch gewährte Lohn für die sozialistischen Eliten immer mehr in Westreisen und Westwaren bestehen musste: Meine Banknachbarin in den Jahren nach dem Mauerbau war die Tochter eines in der DDR akkreditierten RGW-Funktionärs aus Bulgarien. Die Familie fuhr einmal im Monat nach Westberlin einkaufen. Am Ende konnte eine solche Karriere dann noch von einer endgültigen Ausreise gekrönt werden, zumindest für die Kinder. Politische Gründe, um auf der anderen Seite gut anzukommen, gab es immer. Schließlich waren auch sie nicht mehr nötig. Gorbatschow fand sich, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, samt Gattin zum Fototermin in einem westlichen Drugstore ein. Damit war die Mauer hinfällig.
Ein Gemeinwesen, das in Zukunft Probleme seiner Mitglieder vor Ort lösen, aber keine Mauer mehr errichten kann und will, muss sich seines voluntaristischen Charakters bewusst sein. Es stellt insofern eine höhere zivilisatorische Stufe dar, weil es im Bewusstsein der Mehrheit nicht auf natürlicher Ellenbogenmentalität fusst, sondern auf Solidarität. Da sie dem Menschen nicht angeboren ist, bedingt das vielerlei Verzicht, der allein im Rahmen demokratischer Prozesse geleistet werden kann. Nach Marxens Kritik des "Gothaer Programms" sollten solche Gemeinwesen keineswegs gleichmacherisch funktionieren, sondern auf Arbeit und gerechten Ausgleich für die Schwächeren (Erziehende etwa) basieren. Das würde auch heute bedeuten, dass die Macht des Eigentums begrenzt werden muss. Solche ökonomisch nicht autarken, aber selbstregulierten Räume können sich nur mit einer Mehrheit von Einsichtigen entwickeln. Bildung und Weiterbildung müssten groß geschrieben sein, nicht nur, um den Anschluss an neueste Technologien zu halten, sondern ebenso, um auch einmal darauf verzichten zu können. Genau so wie ich mir meinen Anteil am Volkseigentum manchmal am liebsten aus irgendeinem Volkseigenen Betrieb gerissen und aufgegessen hätte, habe ich das große Sozialistenwort, das "Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit" definierte, in der DDR nur hassen können. Das Überleben der Menschheit hängt aber wahrscheinlich davon ab, dass dieser weise Gedanke in anderer Form zum Zuge kommt. Da selbst die Zentren des Kapitalismus heute weder den Neuhinzukommenden noch den Alteingesessenen wirtschaftliche Sicherheit bieten, könnte sich das Bedürfnis nach solchen Lebensformen durchaus entwickeln. Der Kapitalismus ist für die Menschen immer nur dann attraktiv gewesen, wenn er ihre Bedürfnisse in einem für das persönliche Leben vorteilhaften Zeitrahmen befriedigen konnte.
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