Revolution auf Arabisch

Protest Wenn sich die Nordafrikaner die Entscheidungsgewalt über ihre Zukunft zurückerobern, bieten sie ein überzeugenderes Beispiel für die arabische Jugend als jeder Islamist

Beten und bitten sollten die Muslime. Ja, Anhängern des Islam sei jegliche Form des Selbstmords verboten. Und dennoch sollten die Muslime beten, dass auch Märtyrer, die durch Selbstverbrennung sterben, Aufnahme im Paradies fänden. So forderte es jüngst der vielleicht bekannteste islamische Geistliche der Welt, Imam Jusuf Al Qaradaoui, der über den TV-Sender Al Jazeera 40 Millionen Zuschauer erreicht.

Die Selbstverbrennung als politischer Aufschrei, als Fanal, das die Gesellschaft wecken und in Bewegung setzen soll, wurde von buddhistischen Mönchen während des Vietnam-Kriegs praktiziert, weil ihre Religion in Südvietnam diskriminiert wurde. Muslimen verbietet die Religion den Suizid. Und dennoch hat der freiwillige Feuertod des tunesischen Informatikers Mohamed Bouazizi, der es nicht mehr aushielt, seinen und den Lebensunterhalt seiner Familie mit dem Verkauf von Obst und Gemüse bestreiten zu müssen, eine Kette von Selbstverbrennungen in islamischen Ländern ausgelöst: in Algerien, Ägypten, Mauretanien und sogar in Saudi Arabien.

Bouazizi hat zuerst einen Aufruhr in seiner Heimatstadt ausgelöst und schließlich sogar eine echte Revolution in ganz Tunesien. Bricht sie nun auch anderswo aus? Auf Internet-Seiten wie Facebook haben sich gewaltige Unterstützergruppen für allgemeine Reformen und spezielle Demonstrationen gebildet. In ganz Ägypten forderten am Dienstag bei den größten Protesten seit Jahren Zehntausende den Rücktritt von Dauer-Präsident Hosni Mubarak. Auch im Libanon gab es Demonstrationen gegen den neuen, von der Hisbollah vorgeschlagenen Ministerpräsidenten Nadschib Mikati.

Gründe für Protest sind in fast allen islamischen Ländern vorhanden, und sie ähneln sich oft: Überall gibt es zu wenige Arbeitsplätze für junge Leute, auch für Akademiker wie den Informatiker Bouazizi. Aber egal, ob sie ein Universitätsdiplom in der Tasche haben oder nicht – junge Nordafrikaner träumen von der Emigration. Ägypter zieht es in die wirtschaftlich dynamischen Golfstaaten und nach Saudi Arabien. Junge Marokkaner, Algerier und Tunesier hoffen auf Berufsmöglichkeiten in Europa.

Die, „die alles hinter sich verbrennen“ und sich den Booten der Schlepper anvertrauen, werden „Harraga“ genannt. Sie wissen, dass ihre Chance, in Europa anzukommen, klein ist und dass die Chance, dort das Glück zu finden, noch unendlich kleiner ist. Und sie wissen auch, dass sie auf der Überfahrt ihr Leben aufs Spiel setzen. All das ist ihnen gleichgültig. Wie ernst sie es meinen, zeigte erst vorige Woche eine Gruppe von algerischen Harraga, die ihr Boot in Brand setzten, als es von Küstenwache aufgebracht wurde.

Industrielle Brachen

Die Erklärungen des Westens – Mangel an Demokratie, Korruption der Eliten – sind oberflächlich und wohlfeil, wenn er selbst mit den Diktaturen am Golf und in Nordafrika zusammenarbeitet, solange er dort ungehindert investieren und die im Land realisierten Profite auch wieder ausführen darf. Dafür war Ben Alis Tunesien „demokratisch“ genug. Misst man Demokratie aber an der Einhaltung von Menschenrechten, als Mitbestimmung der Bürger auch über Investitionen und Verteilung der Gewinne aus dem, was produziert wurde – dann war das Land eben eine Diktatur. Und so gesehen sind auch Ägypten, Algerien und Marokko Diktaturen.

Die schwierige Frage dabei ist: Kann der Westen ein echtes Interesse haben, dass sich diese Länder eine auf den eigenen Markt hin ausgerichtete Wirtschaftsform zurecht schneidern? Es waren doch IWF und Weltbank, die den diesbezüglichen Versuchen Anfang der neunziger Jahre ein Ende gesetzt hatten.

Gerade in Bezug auf die nordafrikanischen Länder war das freilich ein ruhmloses Ende, denn der Rückbau der eigenen Industrie hatte schon mit der vom ägyptischen Präsidenten Anwar el Sadat 1973 beschlossenen „Infitah“, begonnen, der Öffnung des ägyptischen Marktes für ausländische Investitionen jeder Art und Größe. Das Land verzichtete einfach auf seine Industrialisierung, schloss von einem Tag zum anderen die staatlichen Großbetriebe, wodurch die riesige industrielle Zone von Kairo in eine Brachlandschaft verwandelt wurde. Wäre das nicht in Ägypten und Algerien geschehen, würde sich am Südrand des Mittelmeers – direkt gegenüber von Europa – jetzt vielleicht eine Wirtschaftsregion erstrecken, die ähnlich aufgeblüht wäre wie China. Aber ehrlich – das wollen sich viele Europäer doch lieber nicht vorstellen.

Die Öffnung zur freien Weltmarktwirtschaft hat den nordafrikanischen Ländern weder Wohlstand noch Demokratie gebracht. Sowohl die aus dem Westen importierten Waren als auch die westlichen Industrieanlagen schönten nur das Bild. Aber eine Stadtautobahnbrücke, die von westlichen Ingenieuren mit aus im Westen vorgefertigten Elementen errichtet wird, bietet einheimischen Jungingenieuren keine Chance – selbst wenn sie im Westen studiert haben. Denn Verträge über Industrieanlagen werden in Nordafrika meist mit der Klausel „schlüsselfertig“ abgeschlossen. In Algerien sind es chinesische Unternehmen, die für einen Teil der Arbeiten auch mal inländische Kräfte einsetzen.

Ersatz-Sozialsystem Moschee

In ökonomischer Hinsicht hatte sich die tunesische Diktatur Ben Alis am Weltmarkt gar nicht so schlecht aufgestellt. Angesichts der Rohstoffarmut des Landes war es nicht verkehrt, den Tourismus auszubauen und Investitionen in arbeitsintensive End- und Zwischenfertigungen ins Land zu holen. Deshalb und auch wegen seiner demographischen Situation ähnelt Tunesien in seiner Sozialstruktur heute südeuropäischen Ländern wie zum Beispiel Griechenland und Italien, wo es ja bekanntlich auch viele perspektivlose Jungakademiker gibt.

Und doch ist da ein fundamentaler Unterschied zwischen dem alten Europa und den jungen Staaten in Nordafrika. Während die europäischen Völker den Herrschenden schon seit über hundert Jahren Sozialgesetzgebungen abgetrotzt haben, halten die Eliten im Süden des Mittelmeeres noch das System der Familiensolidarität aufrecht. Dessen Funktionsfähigkeit ist aber schon seit der Zeit des Kolonialismus eingeschränkt, weil die alten Stammesstrukturen, die ja auch ökonomische Strukturen waren, geschwächt und oft auch zerschlagen wurden.

Und wenn die Modernisierung – wie es in Nordafrika der Fall war – nur einem oder zwei Familienmitgliedern einen dauerhaften Arbeitsplatz verschafft, so wurde damit zwar oft ein ganzer Clan ernährt, zugleich aber in totale Abhängigkeit vom „Ernährer“ gebracht. Die Tragödie der Jugend besteht in dieser Abhängigkeit, die eine dramatische Kausalkette auslöst: Der junge Mann, der keine Arbeit hat, muss bei seinen Eltern wohnen bleiben. Er kann auch nicht heiraten, weil bereits sein ältester Bruder geheiratet hat und mit Frau und Kindern einen Teil der elterlichen Wohnung besetzt; so steigt das Frustrations- ebenso wie das Aggressionspotenzial. Während die von derselben Misere betroffenen jungen Frauen eher depressiv werden.

Aus dieser Situation schlagen die Islamisten politisches Kapital. Ausgerechnet sie sprechen das Elend der Jugend offen an. Allerdings nur das der jungen Männer. Sie klagen den Staat, die gottlose Macht, an, der der Jugend ihr Recht unter anderem auf Sexualität verweigert. Sie empfehlen und fördern Eheschließungen, die nur religiös, aber nicht vor dem Standesamt geschlossen werden. Dass solche Fatiha-Ehen für junge Frauen eklatante Nachteile bringen, weil sie vom männlichen Partner leicht aufzulösen sind, ohne dass ihm dabei Verantwortlichkeiten entstehen, steht auf einem anderen Blatt.

Da, wo die Gesellschaft den Menschen Würde und Arbeit versagte, haben die Moscheen – mit finanzieller Unterstützung vom Golf – eine Art Sozialsystem geschaffen. Die Bedingungen, an die Almosen heranzukommen, unterscheiden sich allerdings von denen, die der europäische Sozialstaat stellt, nämlich die stets zu beweisende Arbeitsbereitschaft. Dort genügt die öffentlich zur Schau gestellte islamische Lebensweise der Familie, das heißt, dass die Männer regelmäßig die Moschee besuchen und die Frauen sich verschleiern.

In kaum einem anderen islamischen Land ist die Laizisierung so weit fortgeschritten wie in Tunesien. Von dem Ausmaß echter Mitbestimmung, das dieses Volk im Verlauf seiner jetzt begonnen Revolution erreicht, wird es abhängen, ob die Islamisten insbesondere für junge Menschen die einzige denkbare politische Repräsentanz sein werden.

Sabine Kebir ist Kultur- und Politikwissenschaftlerin. Mehr über und vor ihr findet sich auf sabine-kebir.de

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