Schlechter Terror? Guter Terror?

Beslan und Tschetschenien Zu lange wurde im Westen hinter den Attentätern eine unterstützenswerte Befreiungsfront vermutet

Das monatelang vorbereitete Abschlachten Hunderter Kinder in der Schule von Beslan, die in Uniformen staatlicher Ordnungskräfte begonnene Aktion selbst - das alles trägt die Handschrift jenes nebulösen Netzwerks, das wir mangels genauerer Information al-Qaida nennen. Es ist nicht wahr, dass die Tat singulär wäre. Mitte der neunziger Jahre haben ähnliche Terrorgruppen in Algerien - oft ebenfalls in der Uniform von Ordnungskräften - Hunderte von Schulen überfallen und Lehrer und Kinder öffentlich gefoltert und getötet. Hintergrund war, dass die Bevölkerung den von der Guerilla verordneten Schulstreik nicht befolgte. Die Kinder sollten nicht mehr zum Lernen geschickt werden bis der Schleier für Mädchen und Lehrerinnen durchgesetzt und der Musik- und Französischunterricht für alle abgeschafft sein würde. 600 Schulen, vorwiegend in ländlichen Gebieten, gingen in Flammen auf.

Damals war freilich kein Kameraauge einer interessierten Weltöffentlichkeit dabei. Auch schien es sich um einen Konflikt zwischen bestenfalls halb zivilisierten Muslimen zu handeln. Andere Beobachter - selbst Menschenrechtsorganisationen - hielten die islamistische Guerilla für eine durch den Wahlsieg der Islamischen Heilsfront (FIS) 1991 legitimierte Widerstandskraft im Sinne von Kants Notrecht. Der Philosoph hatte es einst für den Fall reflektiert, dass eine im Höchstmaße despotisch handelnde Regierung die Souveränität des Volkes fortdauernd missachtet. Da es nach Kant jedoch keine Not geben konnte, die Unrecht - zum Beispiel Schaden für Unschuldige - rechtfertigt, gab es in seinen Augen keine positivrechtliche Definition solcher Gewalt.

Das Urteil über die algerische Gewaltszenerie hat sich nach dem 11. September 2001 geändert. Wäre dies nicht nur stillschweigend geschehen, hätte man aus diesen Erfahrungen lernen können. Durch die Eskalation des Terrorismus insgesamt - Bushs und Sharons Staatsterrorismus inbegriffen - fällt es nun um so schwerer, Gewalttaten nichtstaatlicher Milizen zu beurteilen.

Manche Kommentatoren versuchen, Putins Tschetschenien-Krieg mit Bushs Krieg im Irak auf eine Stufe zu stellen. Hier wird die offenkundige Sinnlosigkeit eines neokolonialen Projekts mit Russlands kolonialer Vergangenheit gleichgesetzt, die von der Sowjetunion angeblich ungebrochen fortgesetzt worden sei. Allerdings ist der Irak kein völkerrechtlich anerkannter Teil der USA, gegen dessen Abspaltung die sich zur Wehr setzen müssten. Zweitens ist der angebliche Kolonialismus der Sowjetunion zwar zu diskutieren, aber weder im Hinblick auf Ausplünderung und Menschenrechte noch Entwicklungspolitik mit dem alten Kolonialismus Englands, Frankreichs und Portugals vergleichbar. Selbst die Deportation der Tschetschenen im Zweiten Weltkrieg muss nicht nur Stalin, sondern zunächst einmal Hitler angelastet werden. Die Deportation von Bevölkerungsteilen, die einer angegriffenen Nation in den Rücken fallen könnten, war auch in Demokratien üblich. So ließen etwa die USA nach dem Angriff auf Pearl Harbor 1941 sofort Tausende an der Westküste lebende Japaner bis Kriegsende internieren.

Seit dem Zweiten Weltkrieg verfolgte die UNO eine Politik, wonach die durch Gewalt oder auf friedlichem Wege erreichte Unabhängigkeit der alten Kolonien sanktioniert wurde. Dahinter stand ein Denken, das sich auf die von Kant und Hegel, Fanon und Sartre entwickelten Konzeptionen des Not- und Widerstandsrechts bezog. Um große Flächenbrände zu vermeiden, galt zugleich das Prinzip, dass alle bestehenden Grenzen, Staatsgebilde und Föderationen auch im Konfliktfall erhalten bleiben sollten. Die Zerstörung dieses, ein halbes Jahrhundert lang bewährten Prinzips des Völkerrechts - an der die bundesdeutsche Außenpolitik (siehe Jugoslawien) stark beteiligt war - hat die Welt wesentlich unsicherer gemacht. Bestärkt wurde dadurch auch die neoliberale Auffassung, dass Souveränitätsrechte im Namen einer schwammig definierten "Freiheit" einfach niedergerissen gehören. Das bedeutet in der Praxis, dass jeder, der die nötigen Mittel hat - so auch Osama bin Laden - jedweden Landstrich einfach in Besitz nehmen kann. Die Mittel heißen: Wirtschaftsmacht und - wo diese allein nicht zum Zuge kommt - Waffengewalt. Osama bin Laden ist einer der konkurrierenden neoliberalen Tiger dieser Welt. Er trägt nur keine Maske.

Seltsamerweise wird jetzt entgegen den im Irak gemachten Erfahrungen die Internationalisierung des Tschetschenienkonflikts gefordert. Angeblich könne die Europäische Union dabei eine wichtige Rolle spielen. Hier ist jene Lobby am Werk, die für eine robuste Aufrüstung der EU zur globalen Interventionsmacht plädiert. Deren Nutzen ist, wie Afghanistan zeigt, längst nicht erwiesen. Die dort geplanten Wahlen werden nicht weniger eine Farce sein als die gerade in Tschetschenien abgehaltenen. Die westliche Militärpräsenz am Hindukusch hat bislang nur erreicht, Hamid Karzais Macht in Kabul zu sichern. Warum also sollte ihn eine Bevölkerung in weit entfernten Regionen wählen, die in der Regel tut, was die lokalen Feudalherren - nach westlichem Jargon "Stammesführer" - von ihr verlangen?

Die algerische Erfahrung zeigt, dass in Gebieten, in denen staatliche Ordnungskräfte und Privatmilizen um die Macht kämpfen, die Bevölkerung nur unter Lebensgefahr Wahlbüros aufsuchen kann.

Viele im Westen haben inzwischen begriffen, dass es sich vorerst erledigt hat, hinter Leuten wie den Attentätern von Beslan noch länger eine unterstützenswerte Befreiungsfront zu vermuten. Auf das, was derartige Kräfte wie auch al-Qaida zu verantworten haben, kann die Formel von Kants Notrecht nicht zutreffen. Auch wenn nicht auszuschließen ist, dass al-Qaida daran aktiv beteiligt ist, muss dem Widerstand im Irak allerdings das Recht zugestanden werden, die Souveränität des Landes zu verteidigen.

Europa sollte nun dem tschetschenischen Volk und Russland gleichermaßen helfen, den Konflikt zu lösen, sowohl in geheimer als auch in offener Diplomatie. Auch müsste endlich der Hintergedanke aufgegeben werden, dass letztlich alles gut ist, was Russland schwächt. Zunächst wäre zu hoffen, dass von einem Programm der tschetschenischen Autonomie (oder Unabhängigkeit) nicht nur geredet, sondern dies von legitimierten Vertretern der Tschetschenen einer internationalen Öffentlichkeit auch vorgestellt wird.


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