Seit dem Mord an dem Regisseur Theo van Gogh durch einen jungen Islamisten mit marokkanischem Migrationshintergrund ist offensichtlich, dass das noch vor 15 Jahren für seine Fremdenfreundlichkeit berühmte Holland Probleme mit Einwanderern aus islamischen Ländern hat. Die dahinter stehenden Fragen stellen sich auch in anderen Staaten der Europäischen Union. Daher ist es begrüßenswert, dass zwei Bücher auf deutsch erschienen, in denen sich in Holland lebende Musliminnen mit sehr unterschiedlichen Konzepten zu Worte melden.
Beiden ist gemeinsam, dass für sie das Leben in Holland eine positive Bedeutung hat: "Ich wäre nie zu der Frau geworden, die ich bin, ohne die Offenheit, Gastfreundschaft und Chancen, die mir Holland als Nation entgegenbrachte. Die Freundlichkeit und Zuvorkommenheit, mit der ich in Holland empfangen wurde, waren beeindruckend. Ich fühlte mich vom ersten Tag an zu Hause." Die Autobiographie der 35-jährigen Somalierin Ayaan Hirsi Ali ist jedoch schon allein wegen des Teils interessant, in dem sie ihr Leben beschreibt, bevor sie nach Europa kam. Über die entsetzlichen Entwicklungen in ihrer Heimat Somalia und in ihrem vorherigen Exilland Kenia, über die hierzulande so gut wie nichts Konkretes bekannt ist, schreibt sie bewegend und präzise aus der Sicht einer Frau, die fast alle Züchtigungen und Erniedrigungen erlebte, die weiblichen Wesen in diesem Landstrich widerfahren können.
Aber sie hatte einen Vorteil: ihr Vater war ein aufgeschlossener Mann, der seine Töchter modern erziehen wollte. Er trennte sich jedoch von der Mutter und kämpfte aus dem äthiopischen Exil gegen die Diktatur von Siad Barré. Ayaan wurde zwar die Schulbildung gesichert, aber sie wurde sehr streng erzogen, auf Initiative der Großmutter beschnitten und im Alter von 23 Jahren schließlich zwangsverheiratet. Letzteres geschah dann sogar auf Betreiben des Vaters, der überzeugt war, dass ein wohlhabender junger Somalier aus Kanada auf jeden Fall eine gute Partie sein müsste.
Hirsi Ali beschreibt auch Stationen der Rebellion: von einer islamistisch ausgebildeten Lehrerin angeregt, fühlte sie sich im kenianischen Exil und während einer kurzen Rückkehr nach Mogadischu jahrelang ebenfalls zum Islamismus hingezogen. Sie trug freiwillig einen sie tief verschleiernden Umhang. Die islamistischen Predigten, die sie in von Saudi-Arabien finanzierten neuartigen Moscheen hörte, schienen einen Aufbruch zu mehr Gerechtigkeit zu versprechen - auch für Frauen. Immerhin war es möglich, dass sie ihrer Sehnsucht nach Liebe durch eine heimliche Heirat nachgehen konnte, ausgerechnet mit einem jungen islamistischen Prediger. Freilich stellte sich die Hochzeitsnacht als schwere Enttäuschung heraus. Zum Glück fuhr der Ehemann tags darauf zum Studium ins Ausland.
Leider führt Hirsi Ali an dieser Stelle nicht näher aus, dass der Erfolg der Islamisten bei Jugendlichen auch darauf beruht, dass sie diese Möglichkeiten heimlicher Heirat gezielt schaffen. Sie kann - wie im Falle Hirsi Alis - dann auch wieder ignoriert werden, wenn eine neue Heirat arrangiert werden soll. Aber als die junge Frau bei Clanmitgliedern in Düsseldorf auf das kanadische Visum wartet, um zu ihrem ungeliebten neuen Ehemann zu reisen, beschließt sie unterzutauchen und in Holland um Asyl nachzusuchen, weil es dort einfacher als in Deutschland genehmigt werden soll.
Sie nimmt in Holland sofort alle Weiterbildungs- und Integrationsangebote wahr, hält sich nicht wie viele ihrer Landsleute von den Einheimischen fern, sondern gewinnt unter ihnen Freunde, stellt ihren Glauben mehr und mehr in Frage, geht eine Beziehung mit einem Nichtmuslim ein. Bald dolmetscht sie zwischen Einwanderern und holländischen Behörden. Sie studiert, wird wissenschaftliche Mitarbeiterin einer sozialdemokratischen Stiftung und beginnt, sich in der Öffentlichkeit zur Problematik der muslimischen Einwanderer zu äußern. Sie will sie aufrütteln. Sie sollen gleichfalls die Chancen ergreifen, die Holland aus ihrer Sicht allen bietet.
Wenn sie das zu selten tun, liegt das aus Hirsi Alis Sicht auch an der viel zu großzügigen holländischen Gesetzgebung zur Förderung freier Schulen. Dadurch würden auch Lehranstalten unterstützt, in denen islamische Glaubens- und Lebensgrundsätze im Programm stünden, die gegen die Menschenrechte und auch gegen holländische Gesetze verstießen. Aber kann man in Holland das System der freien Schulen in Frage stellen?
Mit ihren Vorstellungen befindet sich Hirsi Ali nicht mehr auf dem Boden der Sozialdemokratie, sie wechselt zur rechtsliberalen Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD), kommt ins Parlament und wird mit ihren skandalträchtigen Positionen zur landesbekannten Persönlichkeit. Aber ihr Höhenflug ist noch nicht zu Ende. Für ihre Mission sucht sie nun auch nach einem provokanten künstlerischen Ausdruck. Sie plant ein Wachsfigurenkabinett, mit dem Koranverse illustriert werden sollen, in denen die Menschenrechte der Frauen missachtet werden. Ihre Partei sucht bereits nach Stiftungen, die das teure Projekt finanzieren. Aber da kommt plötzlich Theo van Gogh, der ihre Idee zu einem Film machen will. Hirsi Ali schreibt das Drehbuch. Der Rest der Geschichte ist bekannt.
Auch für die Ägypterin Nahed Selim erfüllten sich in Holland ihre Wünsche nach Emanzipation. Auch sie dolmetschte für andere Flüchtlinge, studierte an der niederländischen Filmakademie, arbeitete als Journalistin. Der Grund, weshalb ihr ein weniger radikaler Entwicklungsweg der Muslime vorschwebt als Hirsi Ali mag darin liegen, dass sie in Nassers Ägypten aufgewachsen ist, in dem es Fortschritte für Frauen gab, ohne dass die Gesellschaft atheistisch geworden wäre. Ihre eigene Mutter und ihre Schwester konnten sich in diesem Klima Entscheidungen im eigenen Interesse leisten, die heute für die meisten Ägypterinnen wieder unmöglich geworden sind.
Nahed Salim glaubt nicht an Schocktherapien für zurückgebliebene Muslime, sondern setzt auf die Aktivierung eines dem Islam eigenen Reformpotenzials. Sie arbeitete sich in die Geschichte der islamischen Theologie ein und setzt nun bei der unbestreitbaren Tatsache an, dass viele so genannte islamische Sitten nicht auf den Koran zurückgeführt werden können, sondern auf dessen patriarchalische Verfälschung. Das gilt auch für die frauenfeindliche Ausdeutung der Sunna, die sich aus Aussprüchen des Propheten und Geschichten über ihn zusammensetzt, die nicht im Koran stehen, die so genannte Hadithe. Die Frage ihrer Authentizität ist ein Streitpunkt unter muslimischen Theologen seit sie - etwa sechs Generationen nach dem Tod Mohammeds - aufgezeichnet wurden. Dass die verschiedenen Hadithsammmlungen Gegensätzliches - nämlich Frauenfreundliches und Frauenfeindliches - enthalten, erlaubt die Feststellung, dass diese Fragen bereits in der islamischen Urgemeinde umkämpft waren.
So behaupten zum Beispiel Hadithe, die auf Abu Hureira, den Kämmerer des Propheten zurückgehen, dass dieser die Frauen während der Menstruation für unrein erklärt und ihren Moscheebesuch in dieser Zeit verboten habe. Die auf Aischa und andere Gattinnen Mohammeds zurückgehenden Hadithe erzählen aber, dass der Prophet sein Haupt auch während ihrer Menstruation in ihrem Schoß ausgeruht habe und dass sie die Moschee sogar während ihrer Regel geputzt hätten.
Nahed Salim spürte auch Ungereimtheiten in der Koran-Interpretation auf. Sollte sich ihre Analyse bestätigen, dass das arabische Wort "zina (t)" nicht "Schönheit", sondern "Accessoire" bedeutet, könnte einer der wenigen Verse, mit denen bislang der Schleierzwang begründet wurde, dazu nicht mehr herangezogen werden. Demnach würden die Frauen nicht aufgerufen, ihre Schönheit, das heißt, ihr Gesicht zu verstecken, sondern ihren Schmuck - eine Deutung, die der vom Frühislam gewünschten Abflachung der sozialen Unterschiede durchaus entspräche. Nahed Selim zeigt, dass Mohammed in seinen ersten Suren frauenfreundlicher war als in den späteren. Eine Sure, in der er die Züchtigung von Frauen verbot, widerrief er später - wahrscheinlich aus politischen Erwägungen: Sie hätte ihn die Anhängerschaft zu vieler Männer gekostet.
Nahed Salim ist nicht die erste Muslima, die die Tradition auf diese Weise hinterfragt und für den islamischen Feminismus nutzbar machen will. Fatima Mernissi scheint sie nur namentlich zu kennen, die schon vor 20 Jahren in ihrem Klassiker Der politische Harem fast identische Interpretationen und Analysen lieferte. Nicht nur mit ihrer besonders lockeren Sprache geht sie jedoch weiter als Mernissi. Sie behauptet offen, dass es den Muslimen nicht erspart werden kann, die Historizität des Korans anzuerkennen, der bislang als wörtliche Offenbarung Gottes gilt.
Dagegen spricht aus Selims Sicht nicht nur die arabische Sprachform, die seinem universalistischen Anliegen entgegensteht, sondern dagegen sprechen auch allzu viele Suren, die auf die Figur seines Verkünders maßgeschneidert sind wie etliche Verse mit Ausnahmeregeln für seine persönliche Form der Polygamie. Selbst wenn Gott das für seinen Propheten so gewollt hat, hätten solche Sondererlaubnisse im heiligen Buch eigentlich nichts zu suchen.
Wie andere islamische Feministinnen glaubt Nahed Salim an die absolute Gerechtigkeit Gottes, was impliziert, dass er keine Hierarchie der Geschlechter gewollt hat. Er habe vielmehr Frauen mit denselben Wünschen und mit demselben Verstand ausgestattet wie die Männer. Die Eingrenzung der Wünsche könne für die Frau keine andere sein als für den Mann. Und die Frau sei wie dieser dazu verpflichtet, ihren Verstand zu entwickeln und zu nutzen.
Gegen Nahed Selims schöne Exegesen ließe sich einwenden, dass sich Islamisten sicher davon genauso wenig umstimmen lassen wie von Ayaan Hirsi Alis Film. Tatsächlich wird sie eher gemäßigte Muslime erreichen und - ebenso wichtig - alteingesessene Europäer. Wie sich kürzlich gezeigt hat, sind nicht nur viele Normalbürger, sondern sogar der Papst davon überzeugt, dass der Islam aus vollkommen unhinterfragbaren Dogmen besteht. Natürliche Bündnispartnerinnen hätte Nahed Selim in der nicht unbeträchtlichen Zahl christlicher Theologinnen, die die patriarchalen Verkrustungen ihrer eigenen Religion bekämpfen. Gerade erschien in Gütersloh eine von christlichen Theologinnen herausgegebene Bibel in gerechter Sprache, die auf einer Neubeurteilung des hebräischen Urtextes basiert. Nahed Selims Buch könnte also den interkulturellen Dialog befördern, was von künstlerischen Provokationen wie denen von Hirsi Ali weniger zu erwarten ist. Sie ist jetzt übrigens der Meinung, dass Nahed Selims Weg der richtige sei.
Ayaan Hirsi Ali hat nach dem Mord an van Gogh ihre stolz errungene Freiheit verloren. Die holländischen Sicherheitsdienste versteckten sie schwer bewacht in einem Motel in den USA und unterbanden sogar Telefonkontakte. Nach einem missglückten Versuch, ins holländische politische Leben zurückzukehren, überlegt sie nun, endgültig in die USA zu gehen. Dies ist vielleicht der Grund, weshalb sie das militärische Abenteuer, das diese sich in ihrem Heimatland Somalia 1993/1994 geleistet haben, überhaupt nicht erwähnt, geschweige denn kommentiert.
Ayaan Hirsi Ali: Mein Leben, meine Freiheit. Piper, München 2006, 496 S., 19,90 EUR
Nahed Salim: Nehmt den Männern den Koran! Piper, München 2006, 334 S., 19,90 EUR
Ulrike Bail, Frank Marlene Crüsemann: Bibel in gerechter Sprache, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2006, 2400 S., 24,95 EUR
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