Sicherheitstrakt Hauptschule

Berliner Bildungsangebot Politiker wollen notfalls unter Polizeiaufsicht nachsitzen lassen

Es ist wie im Wildwestfilm: Wer am mutigsten in der Schule frevelt, verschafft sich im Kiez den höchsten Respekt. Dass es sich vorrangig um Schüler handelt, deren Migrationshintergrund "türkisch" oder "arabisch" ist, passt ins derzeitige Szenario: Im guten alten Berlin-Neukölln entsteht eine Art "befreite islamische Zone", wird suggeriert, in der sich deutsche Gesetze nicht mehr durchsetzen lassen. Laut Bildungsministerin Schavan (CDU) nur "die Spitze eines Eisbergs".

Obwohl es noch nicht lange her ist, dass Soziologie, Sozialpsychiatrie und andere Humanwissenschaften genau herausgearbeitet haben, für welche Umstände die öffentliche Hand sorgen muss, damit Kinder und Jugendliche unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und vom Bildungsgrad der Eltern vernünftig erwachsen werden können, wurden diese Umstände - wo sie existierten - durch Unterfinanzierung seit Jahren systematisch zerstört. Und obwohl dieses Land, um die Renten von morgen zu sichern, angeblich dringend junge und qualifizierte Arbeitskräfte braucht, wird die Verantwortung für deren Erziehung allein in die Hand der Eltern gelegt. Doch gibt es Personen, die sich guten Gewissens "Eltern" nennen können, angeblich immer weniger. Wer oder was bevölkert eigentlich die Berliner Rütli-Schule? - "Tierähnliche Wesen", frotzelt die taz.

Falls die Lehrer dieser Anstalt glauben sollten, sie hätten mit ihrem offenen Brief das Kind gespielt, das auf den nackten Kaiser zeigt, haben sie sich - zumindest was den rechten Flügel des politischen Spektrums angeht - heftig getäuscht. Modern wie es ist, findet dieses Lager nichts dabei, nackt durchzuregieren. Für Edmund Stoiber ist der Berliner Schulskandal ein weiteres Indiz dafür, dass die "blauäugige Multikulti-Gesellschaft" komplett gescheitert sei. Er empfiehlt strikte Disziplinierung: Wer sein Kind nicht richtig erzieht, bekommt Sozialleistungen gestrichen. Wer dann immer noch nicht pariert, soll in schweren Fällen ausgewiesen werden - unter Umständen ganze nichtdeutsche Familienverbände. Vorerst muss deren Nachwuchs eben unter Polizeibewachung lernen. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, schlägt gar vor, renitente Schüler notfalls unter Polizeiregime nachsitzen zu lassen. Freilich sollte das in den USA schon praktizierte Modell der videoüberwachten und detektorenbestückten "Schule als Hochsicherheitstrakt" bis auf weiteres nicht zur Regel werden. Wie auch? Das würde ja etwas kosten.

Die für die gesamte Bundesrepublik durchaus virulente Frage nach Sinn und Ziel von Bildungspolitik könnte, früher als vielen lieb sein mag, zur Zerreißprobe der großen Koalition werden. Die SPD und der Berliner Schulsenator geben andere Zeichen als CDU und CSU. Erstere wollen es doch noch einmal mit etwas mehr Förderung, mehr Lehrern, mehr Erziehern und damit einer Kehrtwende versuchen. Der rot-rote Senat hat jahrelang den Bildungsetat gekürzt und Jugendzentren geschlossen, so dass sich viele der neuen Ganztagschulen in Berlin als erbärmliche Aufbewahrungsanstalten für arme Kinder entpuppt haben. Oft sind Klassen- und Freizeiträume identisch. Und wenn die Erzieher die Malstifte nicht selbst kaufen, gibt es eben keine.

Die entscheidende Motivationsbremse für Schüler aller Schultypen stellt jedoch der Arbeitsmarkt dar, auf den sie einen realistischeren Blick haben als mancher Politiker. Längst führen auch gute und sogar hochkarätige Schul- und Universitätsabschlüsse nicht mehr in eine bezahlte Arbeitsstelle.

Die in diesen Tagen häufig gebrauchte Floskel, wonach unser Bildungssystem jedem eine Chance eröffnen müsse, entblößt die tiefe Inhumanität der Verantwortlichen: Das Leben des Normalbürgers, der nicht wohl betucht ist, soll nur noch von hin und wieder auftauchenden Chancen abhängen. Demnach wird der Schule vorzugsweise die Aufgabe zuteil, massenhaft die widerspruchsvolle Figur des politisch korrekten Chancenjägers zu erzeugen.


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