Spaltung

Irak Kalkuliert Bushs Angebot zu einem möglichen Truppenabzug mit einem Zerfall des Landes?

Als "erste freie Wahl seit 50 Jahren" wurde das Votum im Westen gepriesen, als ob es unter der Mandatsmacht Großbritannien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts je freie Wahlen für die Iraker gegeben hätte. Manche Journalisten verstiegen sich gar zu dem Urteil, die Abstimmung sei ein wegweisendes Ereignis für eine ganze Region. Schnell bei der Hand war man mit der Behauptung, dass 70 Prozent ihre Stimme abgaben - eine Zahl, die schließlich auf 60 Prozent korrigiert wurde, obwohl ein genaues Wahlergebnis erst zehn Tage nach dem 30. Januar vorliegen soll.

Die mediale Maschinerie des Westens war nicht willens oder fähig, ein einziges konkretes Programm, geschweige denn konkurrierende Programme der über 111 Parteien zu referieren oder gar zu analysieren. Manche Kandidaten waren ohnehin nur als Nummern auf den Wahllisten präsent - manche hatten sich nirgendwo öffentlich vorgestellt.

Als Hauptrivalen erschienen stets die zwei größten, von Schiiten geführten Gruppierungen - die Irakische Liste des vom Westen favorisierten Ministerpräsidenten Ijad Allawi und das religiös gefärbte Bündnis der Vereinigten Irakischen Allianz, hinter der zwar nicht als Kandidat, aber als Mentor der schiitische Großayatolla al-Sistani steht. Zu dieser Koalition gehören - wenig überraschend - auch Anhänger von Muqtada al-Sadr, der im Mai 2004 den schiitischen Aufstand gegen die Besatzer im Süden geführt hatte. Ein Teil der in Bagdad lebenden Parteigänger al-Sadrs konnten allerdings dem sunnitischen Wahlboykott einiges abgewinnen. Diese Schiiten wollten nicht wählen, solange das Land besetzt ist.

Allein der Wahlboykott im "sunnitischen Dreieck" scheint der Weltöffentlichkeit bislang der einzige Vorgang von zukunftsweisender Bedeutung zu sein. Schälen sich damit die Konturen eines ethnisch und religiös gespaltenen Landes heraus? Nur höchst vorsichtig erklärten Kenner, diese ethnischen und religiösen Demarkationslinien hätten - ähnlich wie im ehemaligen Jugoslawien - im Irak Saddam Husseins an Bedeutung verloren. Seit dem Krieg und mit der Besatzungszeit sei das wieder anders. Einen gespalteten Irak - so behaupten sowohl die zur Wahl angetretenen Kräfte als auch die Besatzer - wolle niemand wirklich. Ob die jetzt in Angriff genommene neue Verfassung dazu führen wird, das Land zusammenzuhalten, ist jedoch fraglich.

Nachdem eine Woche vor den Wahlen die Niederlande bekannt gegeben hatten, das Mandat für ihr Irak-Korps nicht zu verlängern, verkündeten überraschenderweise auch Präsident Bush und Premier Blair als eine Art Wahlgeschenk, dass ihre Truppen ebenfalls in absehbarer Zeit abziehen könnten, angeblich schon in anderthalb Jahren. Obwohl dies die bedeutungsvollste Nachricht am Tage der Irak-Wahl war, schien kaum jemand imstande oder willens, sie zu interpretieren. Bisher sorgte stets "die Sicherheitslage" dafür, dass schon der Gedanke an Rückzug abwegig schien. Da sich in dieser Hinsicht nichts zum Besseren gewendet hat, muss nach anderen Gründen für die Bush-Blair-Offerte gefragt werden. Einerseits scheinen sowohl die materiellen als auch die moralischen Kosten des Krieges ein Ausmaß erreicht zu haben, das selbst in den Augen Bushs höchst gefährlich zu werden verspricht. Andererseits mag er glauben, seinem eigentlichen Kriegsziel tatsächlich näher gerückt zu sein. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass eine Sezession der Kurdengebiete im Norden bereits in den zwölf Jahren nach dem Irak-Krieg von 1991 vorbereitet wurde, dann deutet vieles daraufhin, wie sehr der Irak um seine Integrität fürchten muss. Für Bush wäre ein zerfallender Staat auf jeden Fall beherrschbarer, auch wenn die politischen Risiken eines solches Szenarios - man bedenke nur, was die Türkei gegen einen Kurdenstaat alles unternehmen würde - kaum zu kalkulieren sind. Von der bevorstehenden Vertreibung Zehntausender arabischer Bewohner aus dem Raum um Kirkuk und Mossul wird schon heute wie von einer sicheren Perspektive gesprochen.

Auch die Errichtung eines stärker religiös geprägten Schiitenstaates im Süden würde Amerikaner und Briten temporär entlasten. Für die dort ansässige Bevölkerung wäre eine solche Entwicklung ein erheblicher zivilisatorischer Rückschritt - selbst dann, wenn es sich um ein weniger fundamentalistisches Gebilde handeln sollte als der Iran eines ist. Warum eigentlich sollte eine Spaltung des Irak den USA nicht behilflich sein, sich als "Schutzmacht" für eine ganze Region empfehlen zu können, ohne Besatzungsmacht an Euphrat und Tigris bleiben zu müssen?


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