Er wurde als demokratischer Aufbruch gefeiert – doch für viele ist der Arabische Frühling längst gescheitert. Als sichtbare Zeichen gelten der Syrien-Krieg und Ägyptens regierende Obristen um Präsident Abd al-Fattah as-Sisi. Auch Tunesien, Mutterland der Arabellion von 2011, gelingt es kaum, eine stabile Regierung zu bilden, die den sozialen Hoffnungen, wie sie die „Revolution“ vor fünf Jahren geweckt hat, gerecht wird. Und sind die Massenverhaftungen in der Türkei, die seit dem Putschversuch nicht abreißen, kein Zeichen dafür, dass der lange mit Wohlwollen bedachte demokratische Fortschritt in diesem Land eine Chimäre war? Sollte also doch etwas dran sein am Verdacht, dass der Islam – jedenfalls in seinen derzeitigen Ausprägungen – demokratieunfähig ist?
Wenn wir uns eingestehen, dass Frankreichs Front National, die Freiheitlichen in Österreich und Pegida in Deutschland ebenfalls die Demokratie bedrohen, drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass ein heftig rumorender antidemokratischer Geist auch die westliche Demokratie heimsucht. Dabei wollten wir sie doch in den Nahen Osten exportieren!
Ohne die evidenten Realitäten in der islamischen Welt zu verharmlosen, müssen wir uns fragen, ob der Begriff von Demokratie, der seit Jahrzehnten von westlichen Regierungen und Medien kreiert wird, ausreicht, jene Welt zum Positiven zu verändern. Besagtes Demokratiemodell besteht aus einem starren, nur wenige Koordinaten umfassendem Regelwerk von good governance. Demokratie ist demnach herzustellen, wenn sich die Bürger eines Landes frei in Parteien und Vereinen zusammenschließen und von Zeit zu Zeit ihre Favoriten frei und geheim wählen, wenn Exekutive und Judikative unabhängig sind und eine vom Staat nicht gegängelte private Medienlandschaft dominiert. Die ökonomische Seite dieses Reglements heißt schlicht: Anschluss an einen neoliberal grundierten Weltmarkt, der den freien Verkehr von Personen und Waren durchsetzt.
Dass dieses Demokratiemodell über keine sozialen Koordinaten verfügt, ist sein großer Mangel. Es bleibt emanzipatorische Versprechen schuldig. Wo auch immer – seit Jahrhunderten – auf der Welt um Demokratie gekämpft wurde, erhofften sich die Menschen, nicht nur hin und wieder ihre Wählerstimmen abgeben zu dürfen, sondern ihre Lebensperspektiven verbessert zu finden. So hat sich des westliche Demokratiemuster auch nur in Gesellschaften etabliert, in denen es gelang, einem Sozialstaat Geltung zu verschaffen. Wird der beschnitten, nimmt das Interesse ab, die formalen demokratischen Rechte und Pflichten wahrzunehmen. Sie erscheinen den Menschen dann inhaltsleer.
In Gesellschaften wie den arabischen, in denen noch nie ein demokratisches System in Verbindung mit einem zuverlässigen Sozialstaat existiert hat, erlischt die Begeisterung für eine formale Demokratie besonders schnell, weil man begreift, dass man sich in sozialen Fragen weiter an die traditionell dafür zuständigen Mächte wenden muss: die Instanzen der Religion. Das gilt übrigens auch für christliche Staaten Afrikas. Die Ablehnung des formalistisch eingeengten Demokratiemodells kann dort wie in Arabien so weit gehen, dass sich die Menschen mit diktatorischen Systemen abfinden. Diese garantieren meist ein materielles Minimum. Dass die Meinungsfreiheit und Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt sind, gilt als zweitrangig.
Neben ausgesparter Sozialstaatlichkeit weist das beschriebene Demokratiemuster weitere Lücken auf. So verzichtet es auf die positive Wertung von laizistischen Errungenschaften, die sich in der islamischen Welt in verschieden starken Ausformungen historisch früh etablieren konnten, aber vom Islamismus negiert und bekämpft werden. Umso mehr müssen wir uns von der Idee verabschieden, dass Demokratie ein fest geschnürtes Care-Paket ist, dessen standardisierter Inhalt überall auf der Welt von einem Tag auf den anderen konsumiert werden kann. Ein Prozess oft langer gesellschaftlicher Kämpfe ist nötig, um Demokratie zu erringen. Oft gibt es Teilerfolge, oft Rückschritte.
Natürlich müssen Mehrheitsvoten bei freien Wahlen anerkannt werden, jedenfalls soweit sie keine Aggression gegen andere Staaten zur Folge haben. Aber ein gravierender Fehler ist es, Wahlergebnisse in islamisch-arabischen Ländern auch dann als „demokratisch“ anzuerkennen, wenn die mehrheitlich gewählte Partei nicht einmal Grundelemente von good governance zu verwirklichen gedenkt. Oder wenn sie einen existierenden demokratischen Besitzstand – wie die Laizität – abschaffen will. Da oft dennoch Anerkennung durch den Westen winkt, haben sich islamistische Parteien eine formaldemokratische Fassade zugelegt, die nur dazu dient, an die Macht zu kommen und ohne demokratische Teilhabe zu regieren, wie das in der Türkei der Fall ist.
Rachid Ghannouchi, Führer der islamistischen Ennahda-Partei in Tunesien, die demnächst Teil einer Exekutive der „Nationalen Einheit“ werden soll, hat jüngst auf einem Parteitag erklärt, künftig Politik und Religion trennen zu wollen. Prompt erntete er dafür das Lob der Konrad-Adenauer-Stiftung. Große Teile der tunesischen Laizisten halten Ghannouchis neue Linie stattdessen für reine Demagogie, denn er hat ausdrücklich Recep Tayyip Erdoğan zum politischen Vorbild erklärt.
Kommentare 9
Danke für diesen informativen Beitrag.
Die Vorstellung, Demokratie sei ein exportierbares Konsumgut (was für ein ökonomischer Gewinn wird eigentlich davon erwartet, dass man?) ist ein fataler Irrtum.
Was der Westen da (auf ideologischer Ebene) versucht, ist der Vertrieb von Freiheit, wodurch er allerdings keine unabhängigen Demokratien schafft, gar schaffen kann.
Parlamentarische Demokratie oder andere Formen der Selbstbestimmung eines Volkes müssen von diesem selbst errungen werden, denn nur wenn dieses Bewusstwerden der eigenen politischen Macht aus der Gesellschaft selbst kommt, ist es auch direkt ein Teil von ihr.
Wird Demokratie von außen aufgedrückt, möglicherweise verbunden mit militärischen Aktionen, dürfte es doch unwahrscheinlich sein, dass sich die Menschen eines Landes gegen ihr vorheriges, stabiles System und für die in Instabilität geschaffene bzw. Instabilität schaffende Einführung von Demokratie durch westliche Staaten entscheiden.
Außerdem ist es eigentlich unwahrscheinlich, dass wir Europäer und Nordamerikaner die einzigen Menschen mit diesem Grad an Selbstbewusstsein auf der Welt seien (welcher eher sogar den meisten von uns fehlt).
Also ist doch prinzipiell davon auszugehen, dass sich ein Volk bereits irgendwie mit den herrschenden Gegebenheiten selbst arrangiert hat (z. B. indem, wie oben erwähnt, religiöse Institutionen die Aufgaben des demokratischen Sozialstaates übernehmen).
Jegliche Einmischung in dieses Equilibrium von außen, gar durch Fremde, gegen die zu leicht aus bspw. religiösen Gründen argumentiert werden kann, wird wahrscheinlich nicht die gewünschte Verbesserung für des jeweilige, zu demokratisierende Volk bewirken, sondern nur Instabilität und eine Verschärfung der ohnehin vielleicht nicht optimalen Lebensumstände zur Folge haben.
Danke für den sehr interessanten Beitrag.
Im nachhinein auch noch einen verspäteten Dank an die Autorin - sie hat mich (lang ist´s her) mit der Kulturtheorie Gramscis bekannt gemacht.
Danke für den nachdenklich machenden Beitrag. Der Wunsch nach Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungen ist in den arabischen Ländern sehr ungleich verteilt; in Ägypten gab es schon vor 150 Jahren solche Debatten, auf der arabischen Halbinsel kaum. Verbreitet ist in Krisensituationen - d. h. gesellschaftlichen Unruhen - die Sehnsucht nach dem guten Despoten. Ist das nicht in vielen Ländern der Wunsch, z. B. in Russland?
unbeleuchtet bleibt,
daß die nach wohlstand und gerechter ordnung strebenden
das ökonomische und administrative system unter druck setzen:
durch kinder-reichtum und bildungs-armut.
daß auch in europa der demokratische typus erst im dritten anlauf aussichts-reich ist:
gerhard besier: das europa der diktaturen. eine neue geschichte des 20.jhs.
Der islamischen Welt ist mit der Demokratie des Westens oft nicht geholfen
na sowas
wo sie doch alle wettbewerben um beste zahlen und draghi vornewech
lecker: proleten zu bots heruntereliminieren zu wollen
das wird aber ein spass werden
Danke für diesen Beitrag, auch für die Einordnung des Erdogan-Regimes in die nahöstlichen Zusammenhänge.
Für mich klingt es mehr als zünisch hier von Demokratie zu reden, wenn in Wirklichkeit ein gut funktionierender Staat von außen in die Steinzeit gebomt wird.
100 % Zustimmung.
Was die Autorin hier schreibt, gilt freilich keinesfalls nur für die Arabische Welt, sondern überall.
Das völlige Ausklammern des gesamten sozialen Bereichs lässt die Demokratrie überall, auch bei uns, zu einem reinen Formalismus verkommen und ein System entstehen, das mit "Demokratie" tatsächlich immer weniger zu tun hat, wo Macht und Einfluss nur noch in der Hand einer kleinen Elite liegen.
Das war ja nicht immer so krass wie heute - erst die völlige Übernahme der gesamten Gesellschaft wie der Hülse "Demokratie" durch die neoliberale Ideologie und ihre Profiteure haben die westliche "Demokratie" zu dieser auch für die Araber unattraktiven Leiche gemacht, die sie heute ist.
Und die "Demokratie", so wie sie heute besteht, wird nicht nur für die Araber immer unattraktiver, sondern auch bei uns: Die Erfolge der Rechtsradikalen (AfD, Front National, FPÖ) zeigen das.
Eine Umkehr ist natürlich immer möglich, die "Demokratie" müsste noch keineswegs tot sein, die Änderungen müssten nach über 30 Jahren Neoliberalismus freilich recht drastisch ausfallen, um nur wieder eine soziale Demokratie / soziale Marktwirtschaft vergleichbar von vor 40 Jahren zu erreichen.
Da alles längst vom neoliberalen Mehltau zugedeckt ist und sich unter dem Diktat der angeblichen "Alternativlosigkeit" die politischen Richtungen so gut wie gar nicht mehr unterscheiden, gibt es auch mit jeder Neuwahl immer wieder dasselbe und der Weg in die Sackgasse wird weiter fortgesetzt.
Nennen Sie mir jemanden in Europa, der wirklich das Zeug hätte, das zu ändern - außer Jeremy Corbyn fällt mir niemand ein.
Danke für den Beitrag. Wenn die soziale Komponente in einer Demokratie vernachlässigt wird und verwahrlost, entartet eine Demokratie zur reinen Worthülse. Als 2011 der sogenannte arabische Frühling seinen Anfang nahm, habe ich nur die Hände über den Kopft geschlagen und geahnt, dass alles nur noch schlechter werden wird. Die Zeit der gewaltsamen Revolutionen um besseres hervorzubringen ist endgültig vorbei.
Regierungen müssten sich von einer höheren Instanz beraten lassen, als ihr eigener Bewusstseinsstand es hergibt. Das Integrale Institut wäre so eine höhere Instanz.
Aber wenn die allermeisten Politiker nicht einmal entscheiden können, wo das Wahre, Schöne, Gute des 21. Jahrhundert zu finden ist und damit nicht wissen, wo sie sich Rat holen könnten, um die Dinge zum besseren zu wenden, ist Hopfen und Malz verloren.