Tunesien: Eine neue Demokratie kommt weitgehend ohne Wähler aus
Experiment Präsident Kaïs Sayed hat das Establishment wie Ex-Regierungsmitglieder, hochrangige Funktionäre, Gouverneure, aber auch Richter, Diplomaten und Imame von den Kandidatenlisten verbannt. Die Wähler trugen das nicht mit
Präsident Kais Saied wollte wählen lassen – und keiner ging hin
Foto: Chedly Ben Ibrahim/NurPhoto/picture alliance
Laut westlicher Lesart wird Tunesien, die einzige aus dem Arabischen Frühling von 2011 hervorgegangene Demokratie, immer mehr zu einer Autokratie des Präsidenten Kais Saied. 2019 war er mit 55 Prozent der Stimmen – davon besonders viele von jungen Leuten – gewählt worden. Im Juli 2021 löste er das durch ewigen Streit erschöpfte Parlament auf, das sich als unfähig erwiesen hatte, die Korruption zu bekämpfen und einen Ausweg aus der ökonomischen Dauerkrise zu finden. Sie gipfelte im Sommer 2021 in dramatischer Unterversorgung der an Covid-19 Erkrankten.
Verbannung der Etablierten
Besonders die stärkste, allerdings nicht regierende Partei, die islamistische Ennahda (Wiedergeburt), fühlte sich durch die Schließung des Parlaments
ung des Parlaments brüskiert. Weil Kais Saied per Dekret jedoch rasch Impfungen ermöglichte, Medizinprodukte aus China beschaffte und Preisstopps für Grundnahrungsmittel verfügte, erhielt er zunächst lebhafte Unterstützung durch Demonstrationen im ganzen Land. Eher unbeliebt machte er sich bei den die Ökonomie beherrschenden Ober- und Mittelschichten. Zu ihrem erklärten Feind wurde der Staatschef durch das unter seiner Ägide zustande gekommene neue, geradezu revolutionäre Wahlgesetz für die im Dezember 2022 angesetzte Abstimmung über ein neues Parlament. Eine völlig veränderte Kammer sollte nicht nur dem Wechsel von der Listen- zu Persönlichkeitswahl zu verdanken sein. Mit dem Ziel, die hergebrachten Mechanismen der Vetternwirtschaft zwischen Politik und Ökonomie zu zerschlagen, verbannte das Wahlgesetz alle bis Juli 2021 mit Macht ausgestatteten Personen von den Kandidatenlisten.Das betraf Ex-Regierungsmitglieder und hochrangige Funktionäre, aber auch Gouverneure samt Entourage, zudem Richter, Diplomaten, Imame und sogar Vorstände von Sportklubs. Wer sich um eine Kandidatur für die 161 vorgesehenen Mandate der Legislative bewerben wollte, musste nicht nur ein Wahlprogramm vorlegen. Der brauchte zugleich 400 beglaubigte Unterschriften von Unterstützern, von denen mindestens ein Viertel unter 35 Jahre alt und die Hälfte Frauen sein sollten. Es verwundert nicht, dass dieses mutige Gesetz schon im Vorfeld des Ende 2022 angesetzten ersten Wahlgangs heftige Kontroversen hervorrief. Nicht nur die Ennahda, es waren ebenso bürgerliche Parteien, wie der Parti Doustourien Libre (Freie Verfasssungspartei), die das neue System als illegal verdammten oder über ein „Staatsverbrechen“ klagten. Sie riefen ihre Anhänger auf, sich weder als Kandidaten zur Verfügung zu stellen noch wählen zu gehen. Nur linke oder gen links tendierende Gruppierungen animierten ihre Mitglieder zu Kandidatur und Abstimmung.Unter diesen Umständen gingen dem Urnengang nicht nur Machtkämpfe der politischen Klasse voraus. Es kam überdies zu großen, von Ennahda organisierten Demonstrationen, die sich gegen den Präsidenten richteten. Man warf ihm vor, die Justiz sowie die angeblich bewährten Behörden für Wahlkontrolle und Korruptionsabwehr unter seine Aufsicht gebracht und die Gewaltenteilung eingeschränkt zu haben. Ausgerechnet Islamisten konnten sich damit als Bewahrer des auf Wirtschaftsliberalismus beruhenden westlichen Demokratiemodells profilieren. So sollte der in der heutigen Welt auf jeden Fall bemerkenswerte Versuch, verkrustete ökonomische Strukturen mit radikaldemokratischen, antipopulistischen Mitteln außer Kraft zu setzen, gründlich misslingen. Stattdessen fuhr Tunesien wohl einen Rekord an Wahlabstinenz ein.Zweifelhaftes LehrstückBei der ersten Runde im Dezember beteiligten sich nur elf Prozent der neun Millionen Wähler, beim zweiten Wahlgang blieb es bei diesem Negativwert. Den größten Erfolg hatten unabhängige Kandidaten, die 131 Sitze eroberten, gefolgt vom Mouvement du Peuple, der Volksbewegung, mit kläglichen zwölf Mandaten. Die dem Präsidenten nahestehende Partei Harak du 25. Juillet (Aktion des 25. Juli) kam gar nur auf drei Abgeordnete.Deutlich wurde, dass ausgerechnet die breiten verarmten Schichten, denen das Experiment zugutekommen sollte, daran nicht teilnehmen wollten. Der Schwung, mit dem Saied 2021 deren Lage verbesserte, zeigte nicht die erhoffte Wirkung. Durch den Krieg in der Ukraine stiegen die Weltmarktpreise für Getreide und Speiseöl beträchtlich, weshalb Tunesien die Einfuhren limitieren musste. In der Folge führte ein Preisstopp zu leeren Regalen in den Supermärkten, und ein hochpreisiger Schwarzmarkt entstand. Da das zu großen Teilen in den Export gehende Gemüse und Obst teuer ist und viele Tunesier sich hauptsächlich von Brot und Öl ernähren, stehen nicht wenige Familien am Rand des Hungers und viele Kleinunternehmer vor dem Bankrott. Deren Lage wird weiter durch die ebenfalls weltmarktbedingt hohen Preise für Benzin und Gas erschwert. Um die Stimmung potenzieller Wahlbürger zu heben, reichten Solidaritätsleistungen aus Nachbarländern nicht aus, wie die seit Jahren geleistete Hilfe für den tunesischen Energiemarkt durch Algerien, das nun auch Lebensmittel lieferte. Man höre und staune – der besonders arme Süden Tunesiens erhielt Benzin sogar aus dem benachbarten Bürgerkriegsland Libyen. Aber was hilft es – nach wie vor setzen junge Tunesier aus den ärmsten Schichten ihr Leben aufs Spiel, wenn sie die gefährliche Reise über das Mittelmeer wagen.Wenn eine Staatskasse den Weltmarktpreisen nicht gewachsen ist, kann ein Land den Internationalen Währungsfonds um Kredit bitten, was Tunesien auch getan hat. Monatelange Verhandlungen haben freilich zu keinem Vertragsabschluss geführt, weil der IWF als Gegenleistung genau das fordert, was der Präsident nicht liefern will: gestrichene Subventionen und gesenkte Staatsausgaben. Sich an China zu wenden, ist die einzige Möglichkeit, die Saied noch zu haben scheint. Er traf sich bereits mit Xi Jinping in Saudi-Arabien und wird demnächst in Peking erwartet. Noch nie seit seiner Unabhängigkeit hat sich Tunesien dermaßen ostentativ vom Westen entfernt.Wie das neue Parlament, in dem nur 154 der 161 Sitze besetzt werden konnten, die Krise angeht, ist wegen des extrem hohen Anteils an unabhängigen Kandidaten höchst ungewiss. Für die Tunesier ist es kein Trost, dass ihr Wahlexperiment dem großen Rest der Welt als Lehrstück dienen kann. Wer Erfahrungen mit dem realen Sozialismus gemacht hat, weiß, dass Preiskontrolle Warenmangel bedeuten kann, der auch die Schichten verärgert, die von Preisobergrenzen profitieren. Wenn dagegen der Marktpreis den Zugriff auf knappe Waren reguliert, wird das sozialpsychologisch offenbar eher verkraftet als leere Supermärkte. Als Fazit bleibt, werden Strukturen und Institutionen verändert, die traditionelle Wirtschaftsmacht mit formaler bürgerlicher Demokratie verschweißen, ist mit geballtem nationalen und internationalen Widerstand zu rechnen.
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