Am 17. April nimmt eine Antiterror-Brigade in Tunis einen Mann fest, den der Journalist Mohamed Khalil Jelassi als „einen der weltweit größten Leader des politischen Islam“ bezeichnet: Rached Ghannouchi, Ex-Sprecher der Nationalversammlung, die Präsident Kais Said im Juli 2021 aufgelöst hat. Zugleich wurde der Hauptsitz der Partei Ennahda (Wiedergeburt) geschlossen, deren Exekutivkomitee Ghannouchi vorsteht. Er ist angeklagt, per Video einen Bürgerkrieg heraufbeschworen zu haben. Der sei nicht auszuschließen, hieß es da, sollte in Tunesien der politische Islam von der öffentlichen Bühne verdrängt werden. Da vor Ghannouchi bereits mehrere hohe Kader von Ennahda verhaftet wurden, könnte darin tatsächlich die Absicht von
on Kais Said bestehen. Der außerdem der Geldwäsche bezichtigte Ghannouchi wurde 1941 in einfachen Verhältnissen geboren und kam nur dank großer Beharrlichkeit zu Bildung. Zunächst konnte er an der Theologischen Universität Zitouna ein Diplom ablegen, doch die nach der Unabhängigkeit von 1956 allenthalben gewährten staatlichen Stipendien wurden ihm schnell wieder entzogen. In den 1960er-Jahren besuchte er an der Pariser Sorbonne philosophische Seminare und befasste sich mit den Ideologen der Muslimbrüder wie Sayyid Qutb und Hassan al-Banna. Er verkehrte in islamistischen Kreisen, die vom Panarabismus des damaligen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser zum Panislamismus wechselten. Als der laizistische tunesische Staatschef Habib Bourguiba 1968 ein Gegengewicht zum Marxismus schaffen wollte und an den Schulen den Religionsunterricht einführte, konnte Ghannouchi zehn Jahre lang als Islam-Lehrer arbeiten. Er begann, Predigten zu halten und in einer radikalen Gruppe aufzutreten, die sich für einen islamischen Staat einsetzte. In der Stadt Sfax bildeten einige Mitglieder eine Pressure Group für islamische Lebensweise. Sie demolierten 1977 während des Ramadans Cafés und Restaurants. Schon damals galt Ghannouchi als überaus radikaler Anhänger des Islam, weshalb er unter anderem von den USA mit einem Einreiseverbot belegt wurde. In Tunesien musste er mehrfach ins Gefängnis und wurde amnestiert, dann allerdings 1987 wegen der Vorbereitung eines Staatsstreichs zu Zwangsarbeit verurteilt. Die Begnadigung durch Präsident Ben Ali im Jahr darauf erfolgte nur, weil Ghannouchi ausdrücklich darauf verzichtete, Polizei und Armee zu infiltrieren. Zugleich erkannte er das für die islamische Welt einmalig fortschrittliche „Statut personnel“ Tunesiens an, das die Gleichberechtigung der Geschlechter juristisch verankerte.Seither wurden das öffentliche Bekenntnis zu demokratischen Werten und der hinter vorgehaltener Hand ergehende Aufruf zur Gewalt, wenn Vorstellungen des radikalen Islam nicht respektiert wurden, zum Markenzeichen Ghannouchis. Er sah sich in diesem politischen Balanceakt bestätigt, als mit dem 1988 im Nachbarland Algerien zugelassenen Mehrparteiensystem der Front Islamique du Salut (FIS) legalisiert wurde. Obwohl der FIS offen ein theokratisches System favorisierte, wurde das von westlichen Regierungen als Triumph der Demokratie über den Sozialismus gewertet, der bis dahin in Algerien Staatsziel war. Ghannouchi hielt sich eine Weile dort auf und nannte die Legalisierung des FIS in der Wochenzeitschrift Algérie Actualité eine „historische Zäsur“. Sie würde den Weg für die Transformationen öffnen, „die sich in der Region ankündigen“. Er beglückwünschte den algerischen Präsidenten Chadli Benjedid zu seinem Mut, als erster Staatsmann der arabischen Welt „Freiheit und Demokratie zu realisieren“.Nachdem dann die Armee den Wahlprozess unterbrach, bei dem ein Sieg des FIS sicher war, wurde Ghannouchi zusammen mit 60 anderen tunesischen Islamisten aus Algerien ausgewiesen. Als einer der profiliertesten Vertreter eines mutmaßlich demokratisch geläuterten politischen Islam lebte er danach im islamistisch regierten Sudan, später in Großbritannien, wo ihm 1994 politisches Asyl zugebilligt wurde. Nach Tunesien konnte Ghannouchi erst mit dem Arabischen Frühling von 2011/12 zurückkehren. Unter dem provisorischen Präsidenten Mouncef Marzouki, der als Menschenrechtler für die politischen Rechte von Islamisten eingetreten war, wurde Ennahda, nun legal, zeitweise zur stärksten Partei.Ein geschickt lavierender Ghannouchi wies Radikale in den eigenen Reihen stets darauf hin, dass eine Gesellschaft der Scharia nur als Fernziel gelten könne. Man müsse realistisch denken, solange „Medien, Ökonomie und Verwaltung in Händen von Laizisten“ seien und weder Armee noch Polizei für Ennahda Partei ergreifen würden. Obwohl Ghannouchi es immer vermied, offen zur Gewalt aufzurufen, konnten sich islamistische Terroristen stets darauf berufen, dass er Gewalt als Reaktion auf die Missachtung islamischer Werte darstellte. So entstanden seit 2011 vielfach Jugendgangs, die ihre Viertel als eine Art Sittenpolizei drangsalierten. Tunesien wurde nicht nur selbst von etlichen Anschlägen heimgesucht, die seine wichtigste Einnahmequelle, den Tourismus, stark schädigten, sondern zu dem Land, das die meisten Terroristen „exportierte“. Darunter Anis Amri, der lange auf die Tat vorbereitete Attentäter vom Dezember 2016 auf dem Berliner Breitscheid-Platz. Nach Ghannouchis Festnahme hat nun der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gegen die Verhaftung seines „Bruders“ protestiert. Auch in der EU wurde Kais Said erneut des Autoritarismus bezichtigt, was ihn weitere westliche Kredite kosten dürfte. Der Journalist Jelassi meint, Parallelen zu Algerien, das nach dem FIS-Verbot in einen Bürgerkrieg abglitt, würden sich in Tunesien nicht abzeichnen. Die Mehrheit sei dagegen „immun“.