Unter Ursel

Küssen! Walter Kaufmanns Porträts erzählen ein erotomanes Jahrhundertleben
Ausgabe 29/2018

Man sagt, das Alter schärfe die Erinnerung an Kindheit, Jugend und Reife. Aber nicht jeder kann – wie der mittlerweile 94-jährige Walter Kaufmann – aus diesen Gedächtnisblitzen pointierte Kurzporträts der Menschen machen, die seine Wege kreuzten. Kaufmann fokussiert stets auf den überraschenden Aspekt, der die Begegnung unvergesslich macht. In dieser souveränen Schreibtechnik zeigt sich ein Meister der Short Story, zu dem er in Australien wurde, wohin er als 16-jähriger jüdischer Emigrant von England als „feindlicher Ausländer“ deportiert worden war und wo er nach dem Krieg Seemann in der Handelsmarine und Autor des Bestsellers Voices in the Storm wurde.

1924 wurde Kaufmann, der eigentlich Jizchak Schmeidler hieß, in Berlin geboren und entkam 1939 mit einem der letzten Kindertransporte, die Nazideutschland verließen, über die Niederlande nach Großbritannien. 1957 übersiedelte er in die DDR, wo er noch lange Reportagen, Romane und Short Storys auf Englisch schrieb, bis er sein zupackendes Deutsch perfektioniert hatte.

Nachts im Schriftstellerheim

Ein erster Abschnitt im Buch bietet Porträts von Menschen, die das bei Duisburger Adoptiveltern aufwachsende Kind beeindruckten, wobei die Diskriminierung der Juden eine immer größere Rolle spielte. Die oft in der Schule auftretende Märchenerzählerin Adele Bundschuh durfte nicht mehr kommen und Walter durfte nicht am Unterrichtsfach Rassenkunde teilnehmen, weshalb er am betreffenden Tag die Schule schwänzte. Als der Vater deshalb zu Direktor Dr. Gießen bestellt wurde, gab der zu verstehen: „Übrigens halte ich das mit der Rassenkunde für eine Schande.“

1938 wurde der Vater verhaftet, Walter mit der Mutter in den Keller getrieben, während SS-Banden ihr Haus plünderten. Wenig später setzte die Mutter den Vierzehnjährigen in den Zug, der ihn ins Exil bringen sollte. Beim Abschied versuchte er, sie mit der von einer Hausangestellten aufgeschnappten Bemerkung zu trösten, er sei doch gar nicht ihr richtiges Kind. Bis jetzt quält ihn, ihr so „den Schmerz ihres Lebens“ zugefügt zu haben, das, wie auch das Leben des Vaters, im Konzentrationslager Auschwitz endete.

Dass er tatsächlich adoptiert war, bestätigte sich für Kaufmann erst in der DDR. Die anrührende Spurensuche nach seiner leiblichen Mutter im Berliner Scheunenviertel kann man nur in seiner ebenfalls empfehlenswerten Autobiografie Im Fluss der Zeit (DittrichVerlag2010) nachlesen. Dort steht auch, wie er die verschmutzten Stolpersteine vorm Haus der Duisburger Eltern putzte. Jedoch erfährt man nur in den Porträts, dass es selbst Anwalt Otto Schily 1977 misslang, eine Wiedergutmachung für das enteignete Elternhaus durchzusetzen: Eine Frist war überschritten.

Schon in der Autobiografie faszinierte, wie unverkrampft Walter Kaufmann über seine vielfältigen Frauenbeziehungen schrieb. Die Kurzportäts zeigen erneut: Schwerenötern im Sinn von #metoo lässt er sich nicht zuordnen. Seine erotischen Begegnungen fanden mit Frauen statt, die ihm deutliche Signale eigenen Begehrens lieferten. Als er 1954 im Hafen des tasmanischen Hobart die Gangway hinunterlief, hatte er „nur Augen für die Frau dort unten, eine Frau ganz in Weiß mit blondem Haar, schön gewölbter Stirn und dunkelblauen Augen. […] Sie lächelte mich an, ich erwiderte ihr Lächeln, und sofort war da eine Affinität, ein wechselseitiges Erkennen, dass meine Pläne für den Landgang wie Rauch im Wind vergingen.“

Es stellt sich heraus, dass Daphne ihren Mann bis zum Postboot nach Melbourne begleitet hatte, aber wie Kaufmann einer kurzen „Flucht aus dem Ehealltag“ geneigt war. Ähnlich war es mit Ursula von Gräwitz, der Tochter eines Wehrmachtsoffiziers, der sich als Mitglied des Nationalkomitees Freies Deutschland zur Mitverantwortung an Kriegsverbrechen bekannt hatte. 1957, im Schriftstellerheim Petzow, betrat sie überraschend im Nachthemd sein Zimmer, legte sich zu ihm und flüsterte: „Ich will dich küssen, lass dich küssen. Versteh das, bitte versteh das.“ Hier mischte sich Begehren mit dem Wunsch nach Abbitte „für das, was wir euch angetan haben“.

Die Stasi stahl Liebesbriefe

Auch die Kölner Verlagsangestellte Else Konstantin, die Kaufmann 1986 im bulgarischen Warna traf, trat ihm als erotisch selbstbewusste Frau entgegen. Wie aus einem Brief hervorging, wünschte sie sich die Fortsetzung der Beziehung, hatte sich aber bemüht, zu verstehen, weshalb er nach Ostberlin zurückkehrte: Es war „die Kluft zwischen unseren beiden Welten“. Dass ihn der Brief erst bei Einsicht seiner Stasi-Akte erreichte, war eine Folge der Denunziation durch den Schriftstellerkollegen Paul Wiens, den Kaufmann, der damals Präsident des DDR-PEN war, nach Warna begleitet hatte.

Dass die Staatssicherheit nicht nur Missetaten verantwortete, geht aus dem Porträt von Oberleutnant Arthur Warnecke hervor. 1987 befragte er Kaufmann dazu, wie die mit Kaufmann befreundete Arztfamilie Breker in die BRD gelangt war. Er wisse das nicht, sagte der, gab aber Auskunft über die Schikanen, die dazu geführt hatten. In seiner Akte fand er später die Beschuldigung, „die Adressen von DDR-Ärzten, die das Land verlassen wollten, in den Westen vermittelt zu haben“ – ein Vergehen, das ihn nach Bautzen hätte bringen können. Am Rand stand jedoch eine Notiz Warneckes: „Eingehend überprüft und als unrichtig befunden.“

Info

Die meine Wege kreuzten. Begegnungen aus neun Jahrzehnten Walter Kaufmann Quintus-Verlag Berlin 2018, 168 S., 18 €

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