Natürlich ist dieses Land vom arabischen Revolutionsgeist angesteckt. Aber anders als Ägypten und Tunesien verfügt die Regierung Algeriens über Reserven an Petrodollars, die es ermöglichen, die soziale Krise auch mit sozialen Investitionen und einer Konsuminitiative zu dämpfen. Zugleich ist es ihr bisher gelungen, jedes Aufflackern von Protest mit polizeilichen Mitteln unter Kontrolle zu bringen. Darüber hinaus wird versucht, mit etlichen Reformprojekten den Anschein einer Revolution von oben zu erwecken. Freilich hat der Begriff des Reformprojekts bereits eine ähnliche Färbung wie in westlichen Ländern. Das heißt, es handelt sich in Wirklichkeit um Verschlimmbesserungen oder die bloße Rücknahme von Gesetzen und Anordnungen, die dazu angetan sind, die Position der Bürger gegenüber dem Staat besonders zu belasten.
So musste man seit Beginn des Jahres für die Ausstellung eines Ausweises oder Passes eine frisch ausgestellte Geburtsurkunde des Großvaters beibringen, die nicht per Post angefragt und versendet werden durfte, sondern persönlich in der betreffenden Kommune abzuholen war. Abgesehen vom finanziellen und zeitlichen Aufwand kam hinzu, dass die Generation der Großväter bei den einstigen französischen Kolonialbehörden oft gar nicht gemeldet war und heute urkundlich nicht immer zu ermitteln ist. Energien, die für diesen Kampf gegen den Amtsschimmel nötig waren, gingen für die Auflehnung gegen das Regime erst einmal verloren. Dass diese Bestimmung für Algerier über 40 zwischenzeitlich wieder aufgehoben ist, wird als Erleichterung empfunden.
Unsichtbarer Maulkorb
Eine ähnliche Schimäre ist der von der Regierung und ihren medialen Sprachrohren als äußerst wichtig hingestellte Vorschlag für die von allen gesellschaftlichen Gruppen verlangte Debatte über eine neue Verfassung: Die Amtszeit des Präsidenten soll wieder auf zwei Legislaturperioden beschränkt werden, nachdem der schwer kranke Staatschef Bouteflika 2009 eine Verfassungsrevision durchgesetzt hatte, die ihm eine dritte Amtszeit ermöglichte.
Ein anderes Reformprojekt wird von der Exekutive offenkundig in der Absicht betrieben, potenzielle Protagonisten einer Revolution von unten zu zwingen, sich gegen eine Verschlechterung ihres beruflichen Status zu wehren. So demonstrieren Anwälte seit Monaten gegen einen Gesetzesentwurf, der wesentlich restriktivere Regeln für Gerichtsverhandlungen setzt und mit scharfen Sanktionen droht, sollten diese missachtet werden. Der Anwalt und Menschenrechtler Miloud Brahimi fragt, warum dies in einer Zeit lanciert werde, „in der alle Welt den arabischen Frühling bewundert“. Es verheiße „einen Rückschritt sogar gegenüber dem, was unser Land zur Zeit des Einparteiensystems gekannt hat.“
Die Anwaltsvereinigungen von Algier sowie der Regierungsbezirke Boumerdes, Tizi Ouzou und Sétif meinen, die Pläne würden „den internationalen Konventionen über die Menschenrechte, die Algerien ratifiziert hat“, widersprechen. Der Verteidiger Abdelmadjid Sellini erinnerte an das Versprechen des Präsidenten, eine Justizreform werde es – wenn überhaupt – erst im Gefolge der Verfassungsreform geben.
In einen ähnlichen Konflikt sieht sich die Presse manövriert, die seit 1988 keiner Vorzensur durch das Innenministerium mehr unterworfen ist, sondern auf privatrechtlicher Grundlage existiert. Ein 1991 in Angriff genommenes Projekt, auch private Fernseh- und Radiokanäle zu erlauben, wurde dagegen blockiert. Dennoch gab es nach 1988 weiterhin Sanktionen bis hin zu Gefängnisstrafen, wenn ein „Pressedelikt“ vorzuliegen schien. Das war beispielsweise dann der Fall, wenn der Staat einen seiner Vertreter durch Korruptionsvorwürfe „diffamiert“ sah. Da brisante, unter Umständen auch spekulative Artikel der Auflage gut tun, nahmen manche Blätter finanzielle Sanktionen in Kauf, rechneten sie sich doch unterm Strich Gewinne aus.
Ins Leere laufen lassen
Nun kursiert eine raffinierte Regierungsinitiative, die der Presse engere Grenzen als bisher setzen will. Die Gesetzesnovelle wird als demokratischer Fortschritt gepriesen, weil Journalisten künftig wegen eines „Pressedelikts“ nicht mehr inhaftiert werden sollen. Stattdessen soll es Strafzahlungen wegen möglicher „Diffamierungen“ geben, die aber nicht mehr vom Zeitungsverlag, sondern vom Verfasser persönlich zu leisten sind. Zwei Jahreseinkommen könnten dann fällig sein. Dass ein solches Gesetz kritische Journalisten zur Selbstzensur zwingen will, meint selbst die Journalistin Nardjes Kermiche, die bei der regierungsnahen Zeitung En-Nasr arbeitet: „Damit wird der Journalist einem Tieffliegerangriff preisgegeben. Ich werde mich einem solchen Gesetz widersetzen, weil es nur dem Verleger nutzt, der künftig keine strafrechtliche Verantwortung mehr trägt. Ja, es ist sogar unlogisch, dass der Journalist allein das Risiko für einen Text, ein Foto oder eine Karikatur und damit für etwas tragen soll, was doch in der Verantwortung der ganzen Zeitung liegt. Nun kann der Verleger einen Journalisten fallen lassen, sobald eine juristische Klage vorliegt.“
Dieser für die Presse geplante unsichtbare Maulkorb – gegen den sie in der durch sie geschaffenen Öffentlichkeit eifrig ankämpft – wäre der Gipfel vielerlei Versuche, kritischer zivilgesellschaftlicher Macht beizukommen, wie sie die algerische Presse inzwischen darstellt. Nach dem Wegfall der Zensur 1988 beeinflusste der Staat die finanziellen Spielräume der Zeitungen, indem er Werbeanzeigen der noch vorwiegend öffentlichen Unternehmen zuteilte oder verweigerte. Seit der Markt für ausländische Unternehmen geöffnet ist, bleiben Zeitungen immer weniger auf die Werbung algerischer Firmen angewiesen.
Um den Einfluss der angriffslustigen Blätter zu bremsen, habe der Staat – so Belkacem Mostefaoui von der französischsprachigen El Watan – damit begonnen, Zeitungen mit ähnlichem, letztlich aber weniger kritischem Profil mehr oder weniger verdeckt zu finanzieren. Sie bieten einen größeren Sportteil oder Neuigkeiten aus der internationalen Klatschszene. Ahmed Ancer – ebenfalls von El Watan – meint, dass es in Algerien mittlerweile 97 Tageszeitungen gäbe, die meisten nur mit Auflagen zwischen 2.000 und 10.000 Exemplaren. Ihre Aufgabe bestehe darin, die Wirkung der Blätter einzuschränken, die sich mit Politik befassen. „Damit uns eine Auflage von 200.000 Exemplaren verwehrt bleibt, genügt es, um uns herum ein paar kleine Druckerzeugnisse zu postieren. Leider gibt es auch hausgemachte Probleme. Es gibt nicht wenige Direktoren, die in die Korruptionsaffäre um das Großunternehmen Khalifa verwickelt waren. Damit können sie unter Druck gesetzt werden. Insofern ist die große Presse nicht so unabhängig, wie es von außen scheint.“
Bis heute erzwingt der Staat auch dadurch eine bestenfalls gedämpfte Systemkritik, weil viele Redaktionen auf staatliche Druckereien angewiesen sind, in denen quasi nach Redaktionsschluss zensiert wird. Nur die arabischsprachige El Chabr (Auflage zwischen 350.000 und 500.000) und El Watan können dem entgehen, da sie eigene Druckereien besitzen. Bislang haben die großen Verhaftungs- und Verbotsaktionen des Staates die eigentlich konkurrierenden algerischen Zeitungen stets solidarisch vereint. Immer wieder wurde eine Front sichtbar, um die Pressefreiheit zu verteidigen. Verleger, Herausgeber und Journalisten halten zusammen, um personalisierte Strafandrohungen wegen Diffamierung ins Leere laufen zu lassen.
Sabine Kebir hat zuletzt für den Freitag 29/2011 die Reportage "Zuckerbrot und etwas mehr Respekt" geschrieben
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