Die Zahl der Algerier, die im Bürgerkrieg der neunziger Jahre ihr Leben verloren, ist noch nicht zuverlässig ermittelt. Wahrscheinlich werden es mehr gewesen sein als die offiziell zugegebenen 200.000 Menschen, von der vollends unbekannten Zahl der Verstümmelten, Vergewaltigten und Traumatisierten ganz zu schweigen. Nicht wie die Südafrikaner mit einer Wahrheitskommission, vor der Täter und Opfer zu Wort kommen, sondern mit einem Referendum für eine sehr weitgehende Amnestie wollte Präsident Abdelaziz Bouteflika am 29. September einen weiteren Schlussstrich ziehen. Zur Abstimmung stand eine "Charta für Frieden und nationale Versöhnung", quasi eine Neu- oder Nachauflage der Begnadigungspolitik, wie sie bereits im Jahr 2000 mit der gleichfalls durch ein Referendum legitimierten Politik des Concorde Civile verfolgt wurde.
Durch das Versprechen von Straffreiheit und sozialer Reintegration haben seither 11.000 islamistische Kämpfer die Waffen freiwillig niedergelegt. Damit ist zwar dem politischen Projekt eines islamischen Staates der Wind aus den Segeln genommen, befriedet ist das Land jedoch nicht. Noch immer greifen bewaffnete Banden in wenig bevölkerten Bergregionen Fahrzeuge auf den Nationalstraßen an, allein im September starben dadurch in Ostalgerien 16 Menschen. Die anschwellende Gewalt vor dem Referendum galt als Indiz dafür, dass ein Rest der Guerilla nach wie vor nicht bereit ist, in die Gesellschaft zurückzukehren.
Ist die ihrerseits zur Aussöhnung bereit? Das erklärte Ziel der Charta lautet: Versöhnen und Verzeihen. In der Präambel wird unzweideutig hervorgehoben, dass die Krise seinerzeit durch eine "kriminelle Aggression" ausgelöst wurde, die - leider an anderer Stelle des Textes - als "Einmischung von außen" bezeichnet ist. Folglich könne die Lösung nur in einer Rückbesinnung auf die nationale Souveränität bestehen. Obwohl damit ein richtiger Appell an beide Konfliktpole ergeht und den "Opfern des Terrorismus" bescheinigt wird, historisch die richtige Option vertreten zu haben, frappiert, dass gerade Letzteren nun eine weitere Konzession abverlangt wird: nämlich sich unter dem schwammigen Begriff der "nationalen Tragödie" mit den Tätern gemein zu machen. Doch so unsäglich diese Denkfigur erscheinen mag - sie könnte das einzige Mittel sein, um die Gewalt weiter einzudämmen.
Im einzelnen sollte das Referendum folgende Vorhaben legitimieren: Beendet wird die Verfolgung von Terroristen, die sich erst nach dem 13. Januar 2000 ergeben haben, der letzten Frist, die damals mit dem Concorde Civile gesetzt wurde. Juristisch nicht länger belangt werden sollen zudem all jene Algerier, die vor dem Konflikt ins Ausland geflohen sind. Das würde die Rückkehr Tausender Emigranten aus den USA und der EU, besonders aus Deutschland, ermöglichen. Auch die so genannten "Unterstützer des Terrors" werden amnestiert, sofern sie sich selbst den Behörden stellen. Gelöscht werden des weiteren sämtliche Urteile, die in Abwesenheit solcher Täter gefällt wurden - ausgenommen Verbrechen wie kollektive Massaker, Vergewaltigungen und Bombenattentate auf öffentliche Gebäude. Ihre vollständigen politischen Rechte sollen islamistische Täter jedoch nur dann wieder erlangen, wenn sie ihre Verantwortung für den - wie es heißt - "Pseudo-Dschihad gegen die Nation und die Institutionen der Republik" anerkennen. Schließlich dürfen die Familien amnestierter Terroristen über die bereits bestehenden Regelungen hinaus mit weiteren Sozialleistungen rechnen wie auch die Angehörigen der seit 1992 etwa 10.000 spurlos Verschwundenen. Sie alle gelten künftig - wie die Opfer des Terrorismus - als "Opfer der nationalen Tragödie". Ob mit alldem tatsächlich terroristische Gewalt auf Dauer verhindert wird, bleibt fraglich, zumal eine offene Auseinandersetzung über die Ursachen und den Charakter der algerischen Krise abgeblockt wird.
Da in dieser Hinsicht so gut wie nichts geschieht, waren die schärfsten Gegner des Referendums die Betroffenen auf beiden Seiten des Konflikts. Die Vereine der Opfer des islamistischen Terrors, die schon lange beklagen, dass ihre Schutzbefohlenen geringere staatliche Hilfen erhalten als resozialisierte Terroristen, sind nicht nur empört, dass dieser Missstand fortgeschrieben wird. Sie verweisen auf die katastrophalen psychischen Folgen für die Opfer und Hinterbliebenen, wenn die begangenen Verbrechen nicht mehr geahndet werden. Auch wenn die Charta ausdrücklich Kapitalverbrechen von jeder Straffreiheit ausnimmt - es ist für die Opfer terroristischer Barbarei kaum hinnehmbar, dass etwa Denunziationen und das Anheizen von Gewalt keine Straftaten mehr sind.
Widerspruch kommt auch von den ebenfalls mächtigen Assoziationen jener Familien, in denen es Brüder, Söhne oder Väter gibt, die zu den mehr als 10.000 Menschen gehören, die seit 1992 spurlos verschwunden sind und vorwiegend als Opfer des "Staatsterrorismus" gelten. Bei vielen jungen Algeriern, die verschollen blieben, ließ sich nie mit letzter Gewissheit sagen, ob sie der Guerilla angehörten oder als mutmaßliche Sympathisanten des Front Islamique du Salut (FIS) von der Armee entführt, gefoltert und getötet wurden. Die Familien der Verschwundenen sind mehrheitlich davon überzeugt, dass der Staat inzwischen vor allem sich selbst für die von ihm selbst zu verantwortenden Verbrechen wie Folter und standrechtliche Erschießungen "amnestieren" will. Sie rufen nach Aufklärung und Wahrheit - genau genommen nach der politischen Bankrotterklärung des Regimes. Doch wäre es naiv zu meinen, die Verbände für die Familien der Vermissten seien Keimzellen der Demokratie. In Wirklichkeit leben in ihnen vielfach die tödlichen Utopien der Islamisten fort.
Ungeachtet dessen riefen auch manche Parteien zum Boykott des Votums auf. Das Ganze sei ein Vehikel für den Machtzuwachs des Präsidenten, somit eine "Aggression gegen die Gesellschaft", die in eine "Tschetschenisierung" münden könne, so Ait Ahmed, der im Schweizer Exil lebende Chef des Front des Forces Socialistes (FFS). Ähnlich argumentierte das Rassemblement pour la Culture et la Démocratie (RCD).
Obwohl kaum jemand aus Überzeugung die blaue Karte für ein Ja zur Charta in die Urne geworfen haben dürfte - andere Wege der Deeskalation sind nicht in Sicht. Eine Wahrheitskommission nach südafrikanischem Muster würde voraussetzen, dass eine gesellschaftliche Mehrheit die Ergebnisse des algerischen Konflikts politisch anerkennt. Erst dann könnte über Menschenrechte öffentlich verhandelt werden. Doch es gibt in diesem Teil Nordafrikas kein klares Bekenntnis, um terroristische Gewalt für immer zu ächten. Ohnehin beherrschen nur wenig gemäßigte Islamisten bis heute Algeriens Bildungswesen, ist die Gesellschaft nicht in der Lage, dem Geist und den Zielen des Islamismus offensiv zu begegnen oder gar die Apokalypse zu verstehen, von der man über ein Jahrzehnt lang heimgesucht wurde.
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