Dass ich aus einer kosmopolitisch orientierten Familie stammte, war wohl der Grund, weshalb mir der Grundschullehrer für einen öffentlichen Vortrag von Brechts Friedenslied die Strophe mit den schwierigsten Wörtern zuteilte: „Friede den Kindern Koreas / Und den Kumpeln an Neiße und Ruhr / Friede den New Yorker Schoffören / Und den Kulis von Singapore“. Ich fand die Zeile mit den New Yorker Schoffören am bemerkenswerten, weil sie am pauschalen Feindbild USA rüttelte, mit dem wir gewöhnlich konfrontiert wurden.
In meinem Elternhaus spielte Weltliteratur eine viel größere Rolle als die deutsche, zumal mein Vater – Spezialist für französische Aufklärung – meinte, dass sich unter Besatzungsbedingungen weder in der BRD noch in der DDR eine bedeutende Literatur entwickeln könne. Allenfalls die großen Exilliteraten galten uns etwas, darunter auch Brecht. Mit vierzehn konnte ich zu Hause tagelang miterleben, wie mein Vater seinen Kollegen Werner Mittenzwei bei der Herausgabe von Me-ti. Buch der Wendungen beriet, jener damals für die DDR hochproblematischen Aphorismensammlung, mit der sich Brecht ab Mitte der 30er mit dem Stalinismus auseinandersetzte, indem er ihn kritisch mit Hegel, Marx, Engels und Lenin konfrontierte, aber auch mit aktuelleren Stimmen wie Trotzki und Karl Korsch, von denen der Normalbürger nichts zu wissen hatte. Um der Kulturbürokratie das Erscheinen des Buchs abzuringen, musste man trickreich vorgehen. Folglich waren das für mich nicht nur bezüglich des philosophischen Denkens von Brecht lehrreiche Tage.
Mehrfachlieben und Gegröl
Damals kam ich ihm auch anders näher, weil die Stiefmutter einer meiner engsten Freundinnen Gisela May hieß, die auf dem Höhepunkt ihrer bis in die USA reichenden Karriere stand. Auf Geburtstagsfeiern lernten wir die Diva persönlich kennen. Wenn wir die von ihr interpretierten Brecht-Lieder öffentlich grölten – bevorzugt die aus dem Jugendwerk –, konnten wir uns damals durchaus als Bürgerschrecke empfinden. Es war der vitalistische, mit Unbedingtheit zum Lebensgenuss drängende Charakter dieser Lieder, der uns anzog. Ich liebte besonders zwei Zeilen aus dem Bilbao-Song: „Brandylachen waren wo man saß / Auf dem Tanzboden wuchs das Gras“ .
Natürlich besuchten wir auch das Berliner Ensemble. Dank der Nähe zur May wurde man auch schon in gewisse Interna eingeweiht: Diese und diese Frau ... Und vielleicht auch die .... Uns interessierte das mehr, als es uns schockierte. Schließlich betrieben viele Männer Vielweiberei und es gab sogar Frauen, die Vielmännerei betrieben. Helene Weigel mochte gelitten haben, aber daran kaputtgegangen war sie nicht. Manche hielten ihre Toleranz für dumm. Ich hielt sie für klug. Und was für eine Schauspielerin! May war sauer, weil sie die Courage nicht spielen durfte, solange Weigel lebte. Sie glänzte als Wirtin im Schwejk, besonders mit dem Lied von der Moldau. Beim Einmarsch des Warschauer Pakts in Prag vervielfältigten wir das Lied zum Flugblatt. Ich legte etwa zwanzig Stück in die Zettelkästen der Staatsbibliothek: „Es wechseln die Zeiten / Die riesigen Pläne der Mächtigen kommen am Ende zum Halt“.
1976 kamen Jugendtagebücher heraus, an denen mich die ehrliche Darstellung der Gleichzeitigkeit mehrerer Liebesverhältnisse fesselte. Ähnliches passierte auch mir hin und wieder. Es war offenbar etwas Natürliches, dessen man sich nicht schämen musste; irgendwann löste das Leben den Konflikt. Aber Verantwortung trug man dabei schon. Brecht wollte sie für sein und Paula Banholzers Kind tragen, durfte es aber nicht, weil er noch nicht volljährig war, Paulas katholische Eltern die Heirat mit einem evangelischen Taugenichts nicht erlaubten und sein Vater den Jungen nicht zu sich nehmen wollte. Zum Glück verheiratete sich Paula anderwärts, aber ihr Mann wollte den Kleinen auch nicht in den Haushalt holen. Diese verschrobene Moral gegenüber einem Kind fand ich empörender als Brechts Mehrfachlieben. Verantwortung in der Liebe suggerierte auch das von der May wunderbar interpretiertes Lied Vom Förster und der Gräfin aus Puntila über das Prekäre der Liebe zwischen den Klassen: „Der Förster, er floh in der selbigen Nacht“. Da so etwas in der DDR aber kaum Relevanz hatte, interpretierte ich das Lied auch in Bezug auf Charaktere und Veranlagungen. Das half mir, mich von einem Freund zu trennen. Ihm sollte nicht dasselbe wie dem Förster widerfahren: „All seine Federn, die hängen im Strauch“.
Anfang der 80er erzählte mir Dorothea Haffad, eine ebenfalls aus der DDR stammende Kollegin an der Universität Algier, von ihrer Doktorarbeit über Brechts Liebeslyrik. Dabei war sie auf neuere feministische Arbeiten aus den USA gestoßen, die Brecht nicht nur seine Vielweiberei vorwarfen, sondern auch meinten, dass er die Frauen übermäßig in seine Arbeiten eingespannt und dies nicht honoriert hätte. Brecht ein Ausbeuter? Seine Liebesgedichte hatte ich nie für machohaft gehalten, sie auch als Frau schätzen können.
Die Sache wurmte mich so, dass ich die Sommerferien im Berliner Brecht-Archiv zubrachte und mir die von Haffad genannten Arbeiten ansah. Sie kritisierten auch, dass in den Stücken vor allem aufopferungsvolle Mütter vorkämen oder Huren – angeblich Sinnbilder der „schlechten Frau“ –, jedenfalls keine Frauen, die zum feministischen Vorbild taugten. Das verblüffte mich, weil diese Kritik an die Forderung des sozialistischen Realismus nach „positiven Helden“ erinnerte und von der Effizienz nicht-identifikatorischer literarischer Techniken nichts wusste: Diese stellen das Wünschenswerte nicht dar, sondern lassen es durch den Zuschauer erschließen. Auch deutsche Feministinnen bliesen in dasselbe Horn, übertroffen von Männern. So schrieb Fritz J. Raddatz über Brechts Frauen: „ob Dirne oder Heilige, Mutter, Kämpferin und Genossin, eines sind sie nicht: Frauen“. Brecht sei einem „koketten Männlichkeitswahn“ erlegen, der in den Frauen allenfalls „Echo, Spiegel, Gegenüber – niemals Partner“ sah. Daraufhin las ich alles, was Brechts Frauen über ihn geäußert hatten, und kam zum gegenteiligen Schluss. Auch ging ich die Lyrik über Liebe und Geschlechterbeziehungen durch und wunderte mich, dass viele Interpreten zum Beispiel bei der Beurteilung pornografisch wirkender Sonette nicht zwischen Autoren-Ich und lyrischem Ich unterschieden. Carl Pietzker meinte, Brecht hätte „sexuelles Machtgefühl ... paschahaft“ ausgelebt, als „brutaler Mann posiert“, der „Frauen erniedrigte, von der einen zur nächsten wechselte“.
Objektiv war ich ein Subjekt
Über solchen Muff, der sich sogar in Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands findet, wunderte ich mich. Nur Jost Hermand, der in die USA ausgewanderte Brecht-Forscher, argumentierte wie ich: Der fürsorgliche Männerfeminismus von Weiss entsprang wohl neidvoller Abwehr gegen einen „Übervater“. Weil ich in einer Gesellschaft aufgewachsen war, die es mir ermöglichte, mich nicht nur als weibliches Objekt, sondern eher schon als menschliches Subjekt zu fühlen, wirkte Brecht auf mich nie zynisch. Bei späteren Forschungen über Elisabeth Hauptmann, Helene Weigel, Ruth Berlau und Margarete Steffin – weniger bei Marieluise Fleißer – kam heraus, dass sie der Emanzipationsbewegung der zwanziger Jahre entstammten und als weibliche künstlerische Subjekte aufzutreten versuchten. Nicht Brecht verhinderte ihre Karriere, der Kunstmarkt öffnete sich kaum für Dramatikerinnen, und im Exil wollte niemand Texte unbekannter Frauen drucken. In allen Ausgaben, die zu Brechts Lebzeiten erschienen, wurden Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen genannt, denen auch Tantiemen zustehen. Und in den Nachlässen von Hauptmann und Berlau fand ich viele Texte, bei denen Brecht Mitarbeiter war. Ich plädiere daher dafür, das Werk als großes Kollektivwerk anzusehen, zu dem auch diese – noch zu publizierenden – peripheren Arbeiten gehören.
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