Von Sklaven und Bürgern

Abwärtsspirale In ihrem Buch "Die verweigerte Zukunft" analysieren zwei französische Psychiater den Missbrauch der Psychiatrie

Eine Schweizer Freundin leitet eine Kita für Kinder von Migranten und verbringt viel Freizeit auf Ämtern, um ihre Schützlinge vor der Psychiatrisierung zu bewahren, die die Gesundheits-, und Schulbehörden aus ihrer Sicht oft viel zu früh anordnen. Damit zum Beispiel der "hyperaktive" Ahmed aus Marokko ruhiger wird, genügte ihrer Meinung nach eine größere Wohnung für die Familie.

Dass viele psychische Probleme bei Jugendlichen nicht existieren würden, wenn ihre sozialen Bedingungen günstiger wären, meinen auch die französischen Psychiater Miguel Benasayag und Gérard Schmit. Dass ihr Buch nun auf Deutsch vorliegt, deutet darauf hin, dass auch hierzulande die Probleme, die gesellschaftlich nicht lösbar scheinen, der Psychiatrie überantwortet werden. Psychiatrische Beratungsstellen sind zu "einer Art Auffangbecken für die diffuse Aussichtslosigkeit geworden, die sich in der Gesellschaft ausgebreitet hat."

Die Psychiater, so argumentieren Benasayag und Schmit, hätten es "mit Familien zu tun, in denen Scheidung oder chronische Arbeitslosigkeit der Eltern zu Desozialisation und massivem psychischen und sozialen Leiden führen; mit Lehrern, die uns auf der Suche nach fachlich kompetenten Lösungen für die Probleme mit Gewalt, Erpressung und Drogen konsultieren".

Die Psychiatrie sei damit nicht nur überfordert, sondern könne sogar kontraproduktiv wirken. Es sei für den Einzelnen durchaus gefährlich, wenn aus "Lebensgeschichten Krankheitsfälle" gemacht werden. Etikettierungen wie "hyperaktiv" könnten eine Stigmatisierung bedeuten, die eine Schullaufbahn in eine Abwärtsspirale verwandeln. Katastrophal aus der Sicht der beiden Psychiater wirkt sich das auch in Frankreich durchgesetzte Finanzierungssystem auf der Basis von Fallpauschalen aus: dadurch würden sich Etikettierungen faktisch verfestigen und die Individualität des jeweiligen psychischen Leidens verlorengehen.

Banasayag und Schmit, die auch Psychoanalytiker sind, meinen, dass die Psychiatrie zu Freud zurückkehren müsse, für dessen Lehre das Verhältnis der Psychiatrie zur Gesellschaft konstitutiv gewesen ist. Es gehe um ein "Unbehagen in der Kultur", das der gegenwärtige Mainstream der Psychiatrie aber verdränge. Zu schnell würden heute Psychopharmaka eingesetzt. Grundsätzlich haben die beiden Ärzte nichts gegen solche Medikamente. Aber sie meinen, dass auch Psychopharmaka - wie Psychotherapien selbst - oft zur Lösung von Problemen missbraucht werden, denen eigentlich behebbare gesellschaftliche Zustände zugrunde liegen. Psychopharmaka und Psychotherapie würden offenbar mehr denn je dazu missbraucht, Menschen an menschenfeindliche Umstände anzupassen.

Für das aktuelle Unbehagen an der Kultur, das massenhaft psychische Probleme erzeugt, bringen die Autoren unter anderem folgende Beispiele an: So werde Jugendlichen vorgegaukelt, dass wir in einer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten leben, die sich auf Knopfdruck erschließen. Realiter erlebten sie aber, dass sie von den attraktiven Möglichkeiten ausgeschlossen sind. Da sei es für die Betreffenden oft nur noch ein kleiner Schritt, sich den Zugang zu solchen Möglichkeiten eben doch noch zu verschaffen - gewaltsam. Jugendliche ohne soziale Perspektive lebten oft in einem familiären Umfeld, in dem die alte, patriarchale Autorität fehle und durch keine neuartige Autorität ersetzt werde. Sie neigten dazu, ihre Grenzen im Stadtviertel auszutesten und ihren "Ödipuskomplex" gegenüber der Polizei auszuleben. Hier helfe weder polizeiliche Gegengewalt noch die Psychiatrie. Vielmehr bestehe die Gefahr, daß sich solche "Adoleszenzkrisen" unendlich ausdehnten. Manche Jugendliche richteten ihre Gewaltimpulse auch gegen sich selbst. Weil nur der Zugang zur Warenwelt den Wert einer Person zu bestimmen scheine, bleibe das Gefühl der gegenseitigen Verantwortung unterentwickelt. Auch der "Sinn des Lernens" werde durch Perspektivlosigkeit entleert: ein Dealer wird eher zum Vorbild als der Lehrer. Wenn Lust überhaupt noch entsteht, dann am ehesten in Spielsituationen mit virtueller Bedrohung - worin die beiden Autoren ein gefährliches Aufleuchten von Freuds Todestrieb sehen.

Die Psychiatrie befand sich stets an der gefährlichen Nahtstelle, an der sich gesellschaftliche Normvorstellungen konstituieren. Laut Benasayag und Schmit muss sie sich heute entscheiden, ob sie die Menschen bindungsfähiger machen oder für den Kampf um das Recht des Stärkeren zurichten will.

Der erste Ansatz kann aber nur dann funktionieren, wenn die Therapie nicht in andauerndem Gegensatz zu den persönlichen Erfahrungen des Patienten steht. Die Paradoxie des zweiten Ansatzes zeigen die beiden Autoren mit einem Verweis auf Aristoteles. Er charakterisierte den Sklaven durch seine soziale Bindungslosigkeit, die ihn zu einem allseitig benutzbaren Instrument mache. Der freie Bürger dagegen verfüge über vielerlei Bindungen in der Polis und im "oikos", seinem persönlichen Umfeld. Unsere Gesellschaft, so die Autoren, predige jedoch ein Freiheitsideal, das der aristotelischen Definition des Sklaven entspreche. Freiheit war für Aristoteles nicht von der Entwicklung persönlicher und gesellschaftlicher Bindungen zu trennen. Aristoteles zu folgen, hieße für die Psychiatrie, die Soziabilität der Individuen zu stärken. Das, so ließe sich einwenden, kann aber nur gelingen, wenn die Gesellschaft selbst wieder sozialer wird und sich nicht als eine Ansammlung von Konkurrenten begreift, sondern als Ensemble vielschichtiger Individuen, die ihre Unterschiedlichkeit in Gleichberechtigung ausleben können. Leider machen die Autoren in ihren Fallbeispielen nicht immer deutlich, ob sie diese Kulturleistung allein von der Zivilgesellschaft oder auch von einer grundsätzlich gewandelten Sozial- und Arbeitsmarktpolitik erwarten.

Miguel Benasayag, Gérard Schmit Die verweigerte Zukunft. Nicht die Kinder sind krank, sondern die Gesellschaft, die sie in Therapie schickt. Aus dem Französischen von Carola Bartsch und Inge Leipold. Kunstmann, München 2007, 160 S., 17,40 EUR

12 Monate für € 126 statt € 168

zum Geburtstag von F+

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden