Vor dem Sturm

Algerien Die Wahl droht zur Farce zu werden, Aktivisten landen in Haft – es brodelt im Land
Ausgabe 46/2019
Algerischer Herbst
Algerischer Herbst

Foto: Ryad Kramdi/AFP/Getty Images

Je näher der 12. Dezember rückt, der Termin für die Wahl eines neuen Staatschefs, umso mehr spitzt sich der Konflikt zwischen dem „Hirak“ – der öffentlichen Aktion – und der politischen Klasse zu. Die nach wie vor jeden Freitag demonstrierenden Menschen lehnen die von der Wahlkommission ausgesiebten fünf Kandidaten ab, weil sie alle aus dem Serail des im März zur Demission gezwungenen Präsidenten Abdalaziz Bouteflika stammen. Zum Beispiel Ali Benflis, der zwar mehrfach als Präsidentenbewerber gegen Bouteflika angetreten ist und verloren hat, aber auch Direktor des Präsidialkabinetts und Ministerpräsident war. Oder Abdelmadjid Tebboune, der diverse Ministerien führte und es bis zum Premier brachte. Dazu Azzedine Mihoubi, zuletzt Kulturminister, sowie Abdelkader Bengrina für die kleine islamistische Partei Aufbau, die Bouteflika ebenfalls unterstützt hat. Das trifft ebenso für die Partei Front der Zukunft zu, aus der Kandidat Nummer fünf stammt: Abdelaziz Belaïd, ehemals Kader der Staatspartei FLN.

Für Juristen unerträglich

Die Empörung des „Hirak“ ist auch deshalb so groß, weil altbekannte Manipulationsinstrumente auftauchen: Bestimmte Radio- und Fernsehformate wurden aus den Staatsmedien eliminiert, wie die kritische Sendung Actuel des französischsprachigen Drittens Kanals. Wie immer rufen Aktionen gegen die Pressefreiheit Solidarität staatlicher wie privater Medien hervor. Mittlerweile hat eine große Zahl von Journalisten und Produzenten eine Erklärung unterschrieben, in der sie ihre Arbeit als „Dienst an der Öffentlichkeit“ beschreiben, was Zensur verbiete. Die in einigen Städten des vom „Hirak“ weniger erfassten Südens stattfindenden Märsche für die Präsidentschaftswahlen hält man im Norden für bestellt: Dort würden solche Demonstrationen zu Zusammenstößen führen.

Aber vielleicht hat es die politische Klasse darauf abgesehen, um einen Vorwand für ein härteres Durchgreifen zu haben. Die Polizei von Algier jedenfalls versucht seit Oktober, die jeden Dienstag anberaumten Märsche der Studenten zu behindern. Die Gefängnisse müssen überfüllt sein. Nach wie vor werden Organisatoren festgenommen, wie zuletzt Khalida Toumi, die unter ihrem früheren Namen Khalida Messaoudi in den 1990er Jahren eine geachtete Frauenrechtlerin war, bis sie zwischen 2002 und 2014 als Bouteflikas Kulturministerin an Prestige verlor.

Die Verhaftungswelle trifft Aktivisten des „Hirak“, besonders dann, wenn sie die Flagge der Berber zeigen. Da deren kulturelle Rechte voll anerkannt sind, lässt sich nicht verstehen, wieso dieses Symbol einem Verbot unterliegt, sobald es öffentlich zu sehen ist. Freilich ist die Bewegung der Berber stets auch für mehr Demokratie eingetreten. Während viele Gerichte in den Provinzen die Bannerträger rasch freisprechen und ihnen die Fahnen zurückgeben, sind in Algier etliche noch in Untersuchungshaft, mit steigender Tendenz seit dem 1. November, als es allein sechs verhaftete Flaggenträger gab. Worauf deutet das hin?

Womöglich auf einen inkohärenten Justizapparat und politische Einflussnahme, die viele Juristen als unerträglich empfinden. Der Kampf um die Unabhängigkeit der algerischen Justiz muss offenbar immer wieder von Neuem geführt werden. Schon 1987, ein Jahr bevor die bürgerliche Demokratie formal eingeführt wurde, gelang es der Juristenvereinigung, eine Liga für die Verteidigung der Menschenrechte zu legalisieren, die während des Jugendaufstands von 1988 vehement gegen Folter eingetreten war und auch nach 1990 während des Bürgerkrieges dabei blieb. Unter anderem setzte die Liga ein bis heute gültiges Moratorium für ein Aussetzen der Todesstrafe durch.

Die zahlreichen Verhaftungen von früheren Verantwortungsträgern, aber auch das Beharrungsvermögen von Galionsfiguren aus der Entourage Bouteflikas lassen erkennen: Wirklicher politischer Wandel steht noch aus, stattdessen sind Clankämpfe im Gange. Weil viele Justizbeamte wohl nicht zu Unrecht fürchten, dafür instrumentalisiert zu werden, gehen sie seit einiger Zeit jeden Donnerstag auf die Straße – am 29. Oktober wurde daraus ein unbefristeter Streik. Anlass war die Versetzung von 3.000 Richtern und Staatsanwälten, was als massive Einflussnahme der Exekutive auf die Judikative gedeutet und empfunden wurde. Der Streik legte – unter anderem zu Lasten der Untersuchungshäftlinge, die während des „Hirak“ in Gewahrsam genommen wurden – den Justizapparat weitgehend lahm.

„Kein Militärstaat!“

Die Drohung eines unbefristeten Ausstands erschien vor allem deshalb brisant, weil die Justiz eine wichtige Rolle bei Wahlen spielt. Sie kontrolliert die Wählerlisten und erfasst die Wahlergebnisse in den einzelnen Kommunen. Ohne Justiz könnte es am 12. Dezember keine Abstimmung geben. Prompt wurden die Versetzungen zurückgenommen und den Justizbeamten rückwirkend bis zum Januar Gehaltserhöhungen gewährt. Dass ihre Gewerkschaft den Streik am 5. November für beendet erklärte und die Frage der Unabhängigkeit der Justiz einem nicht näher definierten Arbeitsausschuss überantwortete, hat nicht nur das Gros der Streikenden enttäuscht. Ebenso viele Bürger, die am 1. November, der an den Beginn des Befreiungskrieges vor 65 Jahren erinnert, auf der Straße „eine neue Unabhängigkeit“ forderten. Sie hatten sich mit dem Streik solidarisiert und erklärt: Die Garantie des Rechtsstaates sei wichtigstes Ziel des „Hirak“.

Trotz der ungewöhnlich früh über das Land hereingebrochenen Winterkälte – in einigen Provinzen fiel bereits Schnee – gingen auch am 8. November wieder Hunderttausende in großen und kleinen Städten demonstrieren. An Ahmed Gaïd Salah, den Oberbefehlshaber der Armee, richteten sich Sprechchöre wie: „Wir wollen einen Staat der Bürger – keinen Militärstaat!“ Einige riefen zur Trauer um die drei Soldaten auf, die am 6. November bei einer Anti-Terror-Operation im Regierungsbezirk Tipasa ums Leben kamen, es erklang die Nationalhymne. Die Ordnungskräfte erschienen in leichter Montur. Wohl ein Indiz dafür, dass die Mächtigen Gewalt noch vermeiden wollen, doch ist die innere Zerreißprobe nicht abgewendet, eine stark gewordene Zivilgesellschaft und der Staat finden zu keiner osmotischen Beziehung.

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