Kein Land kann von sich behaupten, einen lupenreinen Rechtsstaat zu haben. Um ihn muss immer gerungen werden. Auch für die Algerier ist das ein dringliches Ziel, von dem sie sich freilich weit entfernt sehen. „Unsere Justiz ist zum Gespött des Auslands geworden“, sagte der seit Jahrzehnten in Menschenrechtsverbänden engagierte Anwalt Miloud Brahimi, als Anfang Januar ein Berufungsverfahren zu Ende ging. Er zählt zum Team der Verteidiger von Saïd Bouteflika, Bruder und lange Zeit Berater von Ex-Präsident Abdelaziz Bouteflika, von Louisa Hanoune, Generalsekretärin des Parti des Travailleurs (PT), und den langjährigen Geheimdienstchefs Mohamed Mediène und Bachir Tartag. Diese waren im Mai 2019 zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden.
Der Vorwurf lautete, sie hätten sich am 27. März illegal in einer Villa der Sicherheitsbehörden getroffen und eine „Verschwörung gegen die Autorität des Staates und der Armee“ vorbereitet. Ziel sei es gewesen, Machtoptionen auszuloten, für die Zeit nach dem bei den großen Freitagsdemonstrationen geforderten Abgang des Präsidenten Bouteflika. Es war kein Geheimnis, dass die Verhaftungen auf Veranlassung von Armeeoberbefehlshaber Ahmed Gaïd Salah erfolgten. Auf dessen Druck hin trat Bouteflika am 2. April 2019 zurück. Bis dann Abdelmadjid Tebboune zum neuen Staatschef gewählt wurde, war nicht etwa Interimspräsident Abdelkader Bensalah die erste Autorität im Land, sondern General Salah.
General in Verruf
Nun aber hat das Militärgericht in Blida die vier angeblichen Verschwörer freigesprochen. Anwalt Brahimi hatte die Richter überzeugt, dass die verhängten Urteile auf Paragrafen beruhten, deren Bezug zu jenem Treffen konstruiert war. Einer bezog sich explizit auf Militärs, die ihren Befehlshaber angreifen, ein weiterer auf Attentäter. Auch hatte die Villa als Ort des Meetings nicht den Geheimdiensten oder der Armee gehört, sondern der Präsidialbehörde. Wie illegal es gewesen sein könne, sich dort zu treffen, fragte der Anwalt.
Saïd Bouteflika und Bachir Tartag wurden vom Militärarrest in eine zivile Haft überführt, da auf sie weitere Prozesse warten. Mohamed Mediène und die PT-Generalsekretärin sind voll rehabilitiert. Louisa Hanoune, die schon vor einem halben Jahr wieder auf freien Fuß kam, sich aber dem Gericht zur Verfügung halten musste, versicherte der Presse, dass Präsident Bouteflika schon vor der inkriminierten Besprechung habe zurücktreten wollen. Auf die Frage, weshalb sie sich als Vorsitzende einer Linkspartei überhaupt mit Honoratioren aus der Machtkaste getroffen habe, antwortete sie, in ihrer politischen Karriere bisher allen Präsidenten begegnet zu sein, außer Houari Boumédiène (im Amt 1965 – 1978). Man sei auf der „Suche nach einem dem Volkswillen entsprechenden Ausweg“ gewesen. Millionen hätten für das Ende des Systems demonstriert. Einen Tag vor dem Treffen habe sie von „einer Verschwörung gegen den revolutionären Elan des Volkes“ erfahren, das um seinen Sieg – die Abdankung von Abdelaziz Bouteflika – gebracht werden sollte.
Heute ist es allgemeiner Konsens, dass der Ende 2019 verstorbene Gaïd Salah der eigentliche Verschwörer war. Dass aber Hanoune und ausgerechnet Saïd Bouteflika, dazu zwei alte Geheimdienstchefs, dazu berufen waren, dem Volk einen „Ausweg“ anzubieten, ist kaum stichhaltig. Zuvor schon war die PT-Chefin von Demonstranten als Fassadenoppositionelle ausgebuht worden. Was viele linke Organisationen im Ausland nicht davon abhielt, gegen ihre Verhaftung zu protestieren, weil sie dahinter politische Motive vermuteten.
Wegen des angeblichen Komplotts vom März 2019 war auch Ex-Verteidigungsminister Khaled Nezzar in Abwesenheit zu 20 Jahren Haft verurteilt worden. Nezzar, der meist in der Schweiz lebt und an seinen Memoiren schreibt, musste sich mehrfach vor internationalen Gerichtshöfen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Bürgerkriegs in den 1990er Jahren verantworten, wurde aber nie verurteilt. Offenbar im Bilde, dass die Komplott-Anklage kassiert würde, kehrte er nach Algerien zurück und bekam am 24. Dezember prompt seinen Freispruch. Allerdings muss Nezzar wegen laufender Untersuchungen, die Wirtschaftsvergehen betreffen, mit weiteren Verfahren rechnen. Dennoch könnte seine Wiederkehr von weitreichender Bedeutung sein. Ist er womöglich zurückgekehrt, weil es Abdelmadjid Tebboune nicht gelungen ist, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen? Algeriens Präsident wird seit November wegen einer Corona-Infektion fast durchgehend in Deutschland behandelt. Wird deshalb eine starke Autorität im Land gesucht? Es wäre jedoch zu bezweifeln, ob Nezzar mit seinen 83 Jahren das junge Algerien bändigen kann. Zu klar ist, dass – entgegen allen Versprechen – das „System“ fortbesteht und lediglich Clankämpfe stattfinden, in die sich Teile der Justiz einbinden lassen.
Daran ändern auch die Korruptionsprozesse gegen ehemalige Machthaber nichts: 25 Minister, 25 Generäle und hohe Offiziere sind derzeit in Haft. Ex-Premier Ahmed Ouyahia hat zugegeben, für die Vergabe von Jagdrechten in der Wüste an Emire aus Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten 60 Goldbarren erhalten zu haben. Dabei wurde zum Jagdvergnügen der Prinzen geschützte Fauna attackiert: Gazellen sowie Trappenvögel, die in der Region ausgestorben waren. Man hatte sie mittels einer Kooperation mit den Emiraten neu ausgewildert – um sie dann abzuschießen. Es überrascht nicht, dass bei derartigen Verstiegenheiten Bestechungsgelder geflossen sind, wohl aber, dass Ouyahia ein Geständnis dazu abgelegt hat – um den Ursprung seines Privatvermögens zu erklären. Will er so noch ungeheuerlichere Geschäfte verbergen?
Dass Politiker ihre Macht nutzen, um wirtschaftlich zu profitieren, das ist nicht nur in Algerien so. Wenn jetzt dazu ermittelt wird und dies zu Prozessen führt, wäre das vorbehaltlos zu begrüßen, gäbe es nicht diesen politischen Beigeschmack. Bei Anwälten, in der Presse, sogar bei Gewerkschaften und Justizbeamten erhebt sich dagegen immer wieder Protest, zumal auch Dutzende von Freitagsdemonstranten weiter in Untersuchungshaft sitzen. In etlichen Fällen gebe es dafür keine stichhaltige juristische Begründung, erklärt Yassad Mabrouk, Präsident der Juristengewerkschaft. Er halte „die Freiheit der Menschen für heilig. Die Untersuchungshaft ist für jeden eine extreme Ausnahmesituation. Leider führt die Mentalität einiger Richter dazu, dass aus dieser außerordentlichen Maßnahme so etwas wie eine Regel gemacht wird“. Es herrsche die skandalöse Praxis, einige Akten der Inhaftierten schnell zu bearbeiten und andere eben liegen zu lassen. Es zeichnet sich ab: Wenn das Land die Corona-Krise einmal hinter sich lassen kann, werden die Freitagsdemonstrationen wohl wieder einsetzen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.