Westbank: Die Annexion scheint nur noch eine Frage der Zeit
Israel Siedler fühlen sich im Westjordanland von der Regierung Benjamin Netanjahus zur Selbstjustiz ermutigt. Die Palästinenser haben weltweit keine Lobby, sind ohne jegliche Rechte – und praktisch vogelfrei
Wenn die israelische Regierung in den vergangenen Jahrzehnten Siedlungen in der Westbank errichten ließ oder die illegale Landnahme durch Siedler legalisierte, rief das in der Regel internationalen Protest hervor. Doch der blieb stets wirkungslos. Viele Israelis sprechen ohnehin nicht mehr vom Westjordanland, sondern gemäß alttestamentarischer Tradition von Judäa und Samaria. Über die sich permanent zuspitzende Lage der dort lebenden Palästinenser erfährt die Weltöffentlichkeit kaum etwas. Westliche Hilfsgelder werden der Autonomiebehörde seit jeher nur unter der Bedingung gewährt, dass sie mit israelischen Behörden in Fragen der Sicherheit, aber auch der Wasserversorgung kooperiert. Wenn die Palästinenser in der Westbank unter sc
schwierigen Verhältnissen zu leiden hätten, heißt es, sei das darauf zurückzuführen, dass die Hilfsgelder in dunklen Kanälen korrupter Fatah-Funktionäre versickerten. Ausgeblendet bleibt, dass ein finanzieller Ausgleich auf keinen Fall den Verlust von Anbauflächen und Wasservorkommen kompensiertAls Terrorist gelistetDa der rasant vorangetriebene Siedlungsbau und der damit verbundene Landraub die international angepeilte Zwei-Staaten-Lösung immer illusorischer machten, konnte Präsident Mahmud Abbas seinen Leuten keinerlei glaubhafte Perspektiven mehr aufzeigen. Bei stetiger Zunahme struktureller Gewalt von israelischer Seite war es insofern nur eine Frage der Zeit, bis es im Westjordanland wieder zu militantem Widerstand kommen würde. Anders als im Gazastreifen wird der von den palästinensischen Behörden nicht unterstützt. Die Folge sind vereinzelte Attentate verzweifelter Jugendlicher gegen jüdische Siedler, die wiederum keine Skrupel haben, auf Selbstjustiz zurückzugreifen. Eine sich anarchisch aufbauende Gewalt zwischen zivilen Gruppen führte 2022 – noch unter der Regierung des liberalen Premiers Jair Lapid – zu fast täglichen Aktionen der israelischen Armee. Dies forderte den seit Jahren höchsten Blutzoll von 245 getöteten Palästinensern – darunter 46 Kinder – und von zehn jüdischen Siedlern sowie Soldaten.Benjamin Netanjahu hat nun in seine Regierungskoalition zwei radikale nationalreligiöse Parteien geholt, die – anders als die Orthodoxen – die vollständige Rückgewinnung des biblischen Israel nicht erst mit der Ankunft des Messias erwarten, sondern durch eigenen Aktionismus vorantreiben wollen. Itamar Ben-Gvir, Chef der Partei Otzma Jehudit (Jüdische Macht), die eine komplette Annexion der Westbank verlangt, ist Minister für Nationale Sicherheit. Kurz nach seinem Amtsantritt am 3. Januar provozierte er palästinensische Empörung durch einen Besuch des Tempelbergs, auf dem heilige Stätten des Islam wie die Al-Aksa-Moschee liegen.Placeholder image-1Angemerkt sei, dass dieses Verhalten auch in den Augen der orthodoxen Juden eine unerhörte Profanation darstellt. Für sie ist das Betreten des Tempelbergs tabu, weil dort das höchste jüdische Heiligtum vermutet wird. Ben-Gvirs Auftritt, mit dem er eine Provokation wiederholte, wie sie im September 2000 schon Ariel Sharon für geboten hielt, war angesichts seiner militant antipalästinensischen Vergangenheit durchaus erwartbar. Mehrfach war er wegen rassistischer Diskurse, Aufwiegelung zur Gewalt und Sabotage der Ordnungskräfte angeklagt, sogar vom Militärdienst ausgeschlossen und von den USA als Terrorist gelistet worden.Nicht weniger beunruhigend war die Ernennung des Führers der Religiösen Zionistischen Partei, Bezalel Smotrich, der derzeit mitbestimmen darf, welche Finanzmittel die Palästinenser im Westjordanland überhaupt noch erreichen. In einer illegalen Siedlung im Golan geboren, bewohnte er später die ebenfalls illegale Siedlung Kadumin. Smotrich behauptet, David Ben-Gurion, Israels erster Regierungschef, habe 1948 „seinen Job nicht zu Ende geführt“, weil er die Palästinenser nicht vollständig vertrieb. Smotrich kämpfte gegen den Abzug aus dem Gazastreifen und wurde Mitglied eines Kampfbundes, der mutmaßlich illegale Wohnbauten von Palästinensern zerstörte. Seit 2015 ist er Knesset-Abgeordneter und initiierte unter anderem ein Gesetz gegen israelische Anwälte, die die transnationale Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) unterstützen. Smotrich befürwortet außerdem eine Justiz der Thora-Gesetze und tritt daher nicht nur gegen eine Gleichberechtigung der Palästinenser auf, sondern auch als homophober Aktivist gegen Gay-Paraden.Blendgranaten im EinsatzMit solchen Ministern in Schlüsselressorts darf sich die Siedlerbewegung ermutigt fühlen, auf palästinensische Gewalt mit massiverer Gewalt denn je zu antworten. Nach der Erschießung zweier Siedler durch Palästinenser drangen am 27. Februar an die 400 Siedler in die 7.000 Einwohner zählende palästinensische Kleinstadt Huwara ein, obwohl sie von israelischen Behörden aufgerufen worden waren, keine Rache zu üben. Sie warfen zunächst Steine, zündeten dann 30 Wohnhäuser an, dazu mehr als 100 Fahrzeuge, Geschäfte, Abfalldepots und sogar Bäume. Zwar wurden danach zehn Siedler verhaftet und die obdachlos gewordenen Palästinenser von der Armee evakuiert, doch war es offenkundig kein Zufall, dass diese Konfrontation einen Tag nach dem Krisentreffen zwischen Majid Faraj, dem Chef der palästinensischen Sicherheitsbehörde, und Ronen Bar, seinem israelischen Pendant, im jordanischen Aqaba über die Bühne ging. Es war eine Begegnung, zu der auch ägyptische, jordanische und US-amerikanische Sicherheitsbeamte stießen. Man beriet „vertrauensbildende Maßnahmen“, um Gewaltausbrüche einzudämmen. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas beschrieb diese Kontakte als notwendig dafür, die Palästinenser im Westjordanland zu schützen. Ismail Hanija von der im Gazastreifen regierenden Hamas erklärte hingegen, dies sei ein Versuch, „die Verbrechen der Besatzung herunterzuspielen und grünes Licht für weitere Verbrechen gegen unser Volk, unser Territorium und unsere heiligen Stätten“ zu geben. Ein möglicher Bruch des palästinensischen Nationalkonsenses – der im November und Dezember in Algier geschlossenen Versöhnungsverträge zwischen Hamas und Fatah, die ein gemeinsames Handeln gegen die Besatzung versprachen – ist zu befürchten.Da Ben-Gvir am 8. Januar bereits palästinensische Fahnen in der israelischen Öffentlichkeit verboten hat, tauchen diese bei den großen Demonstrationen gegen Netanjahus Justizreform nicht auf oder werden schnell ins Abseits befördert. Auf diese Weise wird erreicht, dass die systematische Unterdrückung der Palästinenser, die schon vor der Justizreform ein Verstoß gegen ein Minimum an Menschenrechten war, bei den jetzigen Protestschüben weiterhin komplett außen vor bleibt. Es passt dazu, dass israelische Friedensgruppen, die am 3. März dem verwüsteten Huwara einen Solidaritätsbesuch abstatten wollten, von der Armee mit Blendgranaten daran gehindert wurden. Was für ein Paradox, so die Aktivisten: Die Armee habe aggressive Siedler weder am Betreten von Huwara noch an Ausschreitungen gehindert, jedoch einfache Mittel dafür gefunden, Solidarität den Zugang zu verweigern.
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