Auf meine Frage, ob sie einen Fahrstuhl brauche, hatte Simone Danz geantwortet: „Nein. Danke.“ So konnte ich sie zu mir einladen. Als sie vorm Haus stand, fragte ich, ob ich ihr beim Tragen der Reisetasche helfen könne. Wieder kam entschieden: „Nein. Danke.“
Trotz ihrer sehr kurzen Arme und ihrer ungewöhnlichen Hände meistert Simone Danz alles, was „normal“ aussehende Leute auch meistern. Vor unserem Gespräch wusste ich nur, dass sie als Professorin Inklusive Pädagogik und Heilpädagogik lehrt – und selbst Contergan-Geschädigte ist. Als wir dann zusammen eine Suppe essen und ich gar nicht mehr bemerke, ob sie diese anders löffelt als ich, hat sie eines ihrer Ziele erreicht: Sie hat mich „irritationsfähiger“ gemacht.
der Freitag: Frau Danz, wenn in Deutschland eine Professur ausgeschrieben wird, sollen Schwerbehinderte bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt werden. An den Hochschulen sind sie dennoch die Ausnahme. Was hat Sie befähigt, erfolgreich diesen Weg zu gehen?
Simone Danz: Ich habe viel Glück gehabt – und Mut. Meine Eltern bestanden darauf, dass ich in Wolfsburg in einen ganz normalen Kindergarten und in eine normale Schule komme. Meine Beeinträchtigung ist eigentlich nur eine optische. Ich bin mit verkürzten Armen geboren, aber es fühlt sich für mich normal an. Ich kann mir gar nicht vorstellen, mit so komischen langen Armen und so vielen Gelenken, wie andere sie haben, klarzukommen. Ich bewundere immer, wie die „normalen Langarmigen“ schreiben oder Fahrrad fahren können. Was sich für mich körperlich normal anfühlt, ist natürlich für die anderen, die mich sehen, nicht normal. Ich habe ein relativ gutes Abitur gemacht und sollte studieren, das wollte ich aber nicht, sondern bin direkt nach dem Abitur erst mal drei Jahre nach Indien gegangen.
Indien, so weit weg?
Spanien oder Italien hätte nicht gereicht, mich aus meiner überbehüteten Situation zu retten und zu sagen: Ich lebe mein eigenes Leben. Mir kam oft positive Diskriminierung entgegen: Man schonte mich, traute mir nichts zu, die Leute versuchten, Leid von mir fernzuhalten und ließen mich nicht wirklich Erfahrungen machen. In meiner Kindheit durfte ich zum Beispiel nur die Plastiksachen abtrocknen, aber nicht das richtige Geschirr. Ich wollte mich in Indien einfach ausprobieren. Ich habe meinen Eltern gesagt: Ich gehe, ich habe Geld, ich bin volljährig. Ich habe dann in Puna mit Deutschen zusammengelebt. Diese Leute haben mich – zum ersten Mal in meinem Leben – ernst genommen.
Wann war das?
Anfang der 80er Jahre. Als Contergan-Geschädigte bekam ich damals so um die 400 Mark monatlich. Damit konnte ich in Indien gut auskommen. Es war ein Glück für mich. In Indien ist es nicht so normal, dass alles an einer Person dran ist. Man sieht mehr Behinderung im täglichen Leben. Die Menschen haben auf mich sehr offen reagiert. Sie wollten wissen, was ich genau hab und ob es wehtut. Ich habe erst dort gelernt, mich zu akzeptieren und wirklich selbstständig zu sein. Meine Eltern waren natürlich in heller Aufregung. Heute kann ich ihre Angst verstehen: Indien, Bhagwan, Ashram? Ist das Kind drogenabhängig? Sie drängten mich, nach Hause zu kommen. „Erst, wenn ihr gesehen habt, was ich hier mache, komme ich zurück“, sagte ich. Das war 1984. Sie sind dann wirklich nach Indien gekommen. Als mein Vater irgendwann sagte: „Ich verstehe langsam, was du hier wolltest“, da wollte ich sofort nach Hause.
Vermeintlich ohne Nebenwirkungen
Als 1957 das Beruhigungsmittel Contergan auf den Markt kam, versprach es Entspannung und Schlaf ohne Nebenwirkungen. Bei klinischen Tests wurde das Mittel für unbedenklich befunden und war deshalb rezeptfrei erhältlich. Hinweise auf Nervenschäden bei Patienten wurden lange übersehen und für Missbildungen bei Kindern machten Anfang der 1960er viele Atomwaffentests verantwortlich. Es dauerte deshalb vier Jahre, bis das Medikament aus dem Handel genommen wurde.
Besonders bei Embryos führte Contergan zu schweren Entwicklungsschäden und oft zum Tod. Allein in Deutschland kamen circa 4.000 Kinder mit Missbildungen vor allem der Extremitäten auf die Welt. Über 2.000 von ihnen leben bis heute mit den Folgen.
Die Geschädigten verklagten die Firma Grünthal auf Schadensersatz. Doch der Prozess endete mit einem Vergleich, der die Firma von allen weiteren Forderungen entlastete. Im Gegenzug stellte Grünthal 100 Millionen Mark für eine Stiftung bereit, die u.a. eine monatliche Rente an die Opfer zahlte, meist wenige hundert Mark monatlich. Erst 2008 wurden die Rentenzahlungen für die alternden Contergan-Opfer, die mittlerweile aus dem Bundeshaushalt finanziert werden, deutlich erhöht.
Eine der Folgen des Contergan-Skandals war die Verschärfung der Zulassungsverfahren für Arzneimittel. Erst seit 1976 sind Hersteller gesetzlich dazu verpflichtet, den Nachweis für die Ungefährlichkeit neuer Medikamente zu erbringen.
Wie ging es zurück in Deutschland weiter?
Ich wollte unbedingt mit meinen Händen arbeiten und habe eine normale Gartenbau-Lehre in Hannover gemacht. Ich war stolz auf meinen Gesellenbrief, der hat mir aber nicht gereicht. Ich spürte schnell, mir liegt Pädagogik. Ich bin dann in eine Ausbildungsgärtnerei gekommen und habe „milieugeschädigte Jugendliche“ durch eine kleinere Fachausbildung begleitet. Spät, mit 35, habe ich dann angefangen zu studieren, Erziehungswissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Sonderpädagogik. Eine Professorin hat mich motiviert, parallel zur Berufstätigkeit zu promovieren. So wurde ich nach einigen Zwischenstationen schließlich Professorin für Inklusive Pädagogik und Heilpädagogik an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg.
Behinderung wird meist als Abweichung von der Norm verstanden. Wie sehen Sie das?
Jan Weisser, ein Sonderpädagoge aus der Schweiz hat es mal auf den Punkt gebracht: Behinderung ist eine Irritation, weil das, was man in einer Begegnung erwartet, von dem abweicht, was man vorfindet. Der eigentliche Auftrag geht also an die Nichtbehinderten, die besser lernen sollten, mit so einer Irritation umzugehen. Ich erlebe oft, dass Menschen sich nicht trauen, mich anzusprechen, obwohl meine Behinderung gar nicht so schwer ist: Ich kann normal reden, meine Mimik beherrschen, habe keine zerebrale Schädigung. Früher, wenn ich mit einer Begleitung unterwegs war, wurde die gefragt: „Braucht sie einen Strohhalm?“ In einer Arztpraxis soll ich etwas ausfüllen und man fragt: „Können Sie denn schreiben?“ Oder: „Sie fahren Auto? Auf der Straße?“ – „Ja – wo denn sonst?“ Neulich war eine Freundin ganz irritiert, dass ich stricken kann. „Mit deinen Armen?“ Wenn alle diese kurzen Arme hätten, wäre das normal.
Behinderung wird abgewertet?
Das Wort „Behinderung“ wurde in der Bundesrepublik nach dem Krieg eingeführt, als die Sozialgesetze neu geschrieben wurden, um den Begriff „Krüppel“ abzulösen. Bis dahin hatte man das Wort Behinderung nur im Zusammenhang mit „Verkehrsbehinderung“ oder „ein Flusslauf ist behindert“ verwendet, aber nicht mit Blick auf Menschen. Es hat nicht lange gedauert, bis „Behinderung“‘ ein Schimpfwort wurde. Da läuft im Hintergrund eine bedeutungsvolle Tonspur mit, nämlich eine Bewertung – etwas, das wir nicht verhindern können. Auch, wenn wir diese korrekten neueren Begriffe nutzen: „Menschen mit besonderen Fähigkeiten“. Ein Begriff ist wie ein Schwamm für das, was wir zu verdrängen versuchen, die Abhängigkeit, die Verletzlichkeit, das Ausgeliefertsein.
Dabei kann jede und jeder einen Unfall haben.
Ja, davor haben alle Angst und reden nicht gern darüber, weder Männer noch Frauen. Mir hat mal ein Student im Rollstuhl gesagt: „Frau Danz, in Ihrem Seminar fühle ich mich wohl, hier habe ich das Gefühl, ich bin schon da angekommen, wovor sich alle noch fürchten.“ Die Normalität ist ja, dass wir nur zeitweise nicht behindert sind. Wir vergessen, dass die Lebenskurve spätestens Mitte 50 wieder abfällt und wir mehr und mehr in den Zustand der Hilfebedürftigkeit kommen. In der Gruppe der 60-Jährigen ist jede dritte Person betroffen, bei den 80-Jährigen jede zweite. Wir hatten in der sozialen Hilfe lange den Slogan: Betroffene zu Beteiligten machen. Aber eigentlich müsste es heißen: Beteiligte zu potentiell Betroffenen machen. Im WDR-Schulfernsehen wurde einmal in Bezug auf Gerechtigkeit gesagt: „Wenn wir alle nicht genau wüssten, in welchem Körper wir morgen aufwachen, würden wir gemeinsam dafür sorgen, dass es uns allen gut geht.“
In unserer Gesellschaft, bekommt man zu vielen Dingen nur Zugang, wenn man Normen erfüllt.
Diese Normen sind von der kapitalistischen Verwertungslogik geprägt. Wir müssen alle möglichst lange gesund, sexy, leistungsfähig sein – die Männer potent, die Frauen gut aussehend. Gegen diese Normalitätsanforderungen können wir uns kaum wehren. Es ist auch schwer zu sagen: Ich kann nicht mehr. Behinderung will man weit weg platzieren und am liebsten nicht sehen.
Sie sind auch „Enthinderungsbeauftragte“. Was bedeutet das?
Wir versuchen an unserer Hochschule, eine bewusste Sprache anzuwenden. Es gibt die gesetzlich vorgeschriebene Stelle der Behindertenbeauftragten. Die Hochschule hat es geschafft, das Wort im Verordnungsblatt zu ändern. Der eigentliche Auftrag ist doch die Enthinderung. Ich bin als Enthinderungsbeauftragte für den Nachteilsausgleich von Studierenden mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten zuständig. Wenn sie für Prüfungen oder Hausarbeiten einen längere Bearbeitungszeit brauchen, helfe ich, dass sie das genehmigt bekommen. Eine blinde Studentin kann zum Beispiel Klausuren nicht von Hand schreiben, sie muss einen PC nutzen, was aber nicht der Prüfungsordnung entspricht. Und mir ist Menschenrechtsbildung wichtig. Ich will die Fachkräfte, die unsere Hochschule verlassen, befähigen, die Bedeutung des Abbaus von Barrieren zu kennen
Was sind die Hemmnisse?
Die feinen Isolationsprozesse finden schon sehr früh statt. Wenn einer Mutter gesagt wird: „Ihr Kind ist geistig behindert“, geht sie sofort anders mit ihm um. So werden Menschen früh in Schubladen gesteckt. Vor vielen Jahren hieß es, dass Menschen mit Trisomie 21 – dem „Downsyndrom“ – nur im Praktischen bildbar seien. Inzwischen haben wir in Spanien und Italien die ersten HochschulabsolventInnen mit Trisomie 21. Eine weniger isolierende Umwelt macht da viel möglich. Wenn meine Studierenden ins Praktikum gehen und Menschen treffen, die ungewöhnlich aussehen, Hirnverletzungen haben, im Rollstuhl sitzen, ihr Gesicht und ihr Reden nicht gut beherrschen können, Spasmen haben oder sogar Speichel, der aus dem Mund läuft – sind sie oft erst abgeschreckt. Aber dann lernen sie den Menschen kennen und denken nicht mehr: „Der ist ja komisch“, sondern vielleicht: „Der ist ja total witzig und charmant.“ Unsicherheit ist hier eigentlich das Thema. Wir müssen alle viel irritationsfähiger werden.
Behinderte haben, wie alle Menschen, Sehnsucht nach körperlicher Berührung. Wie kann sie sich erfüllen?
Ich selber pflege eine Form des Ausdruckstanzes: Kontaktimprovisation. Wir kommen mit fremden Menschen in Berührung, tanzen und bewegen uns miteinander. Junge und Alte sind beteiligt, da werden solche Grundbedürfnisse nach Berührung gestillt. Ich bin schon oft unheimlich erfüllt und berührt nach Hause gegangen, weil mich wildfremde Menschen wertschätzend berührt hatten. Die waren nicht abgeschreckt von meinen Armen. Ich träume heute davon, Kontaktimprovisation in Schulen einzuführen und achtsame, respektvolle Begegnung zu lehren, lange bevor es überhaupt zu Sexualität kommt. Die ist heute völlig von Beschämungs- und Ausbeutungsmechanismen überformt. Schon Schüler der vierten Klasse gucken Pornos und verinnerlichen völlig falsche Vorstellungen von körperlicher Begegnung.
Kennen Sie Versagensängste?
Ja, ich kriege auch die Krise, wenn ich an einem Tag besonders alt aussehe, mein Gesicht hängt oder meine Arme noch kürzer wirken. Wir müssen mehr Verletzlichkeit zeigen dürfen. Im Kapitalismus sollen wir Unzulänglichkeit mit einem neuen Parfum, neuer Hose, einem besseren Make-up, einem größeren Auto ausgleichen. Dabei brauchen wir nur Menschen, die uns sagen: „Hey, ich find dich schön, wie du bist.“
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