Zweifel am Züchtigungsrecht

Religion Ist der Islam mit der Gleichberechtigung vereinbar? Ja, sagen muslimische Denkerinnen wie Samia Osman. Ein Überblick

Damit muslimische Frauen nicht mehr Zwangsverheiratung, Polygamie, Ehrenmord und Genitalverstümmelung erdulden müssen, braucht der Islam endlich seinen Feminismus – das ist eine weitverbreitete Auffassung im Westen. Er möchte nicht nur Geburtshelfer der Demokratie im Islam sein, sondern des islamischen Feminismus. Übersehen wird dabei, dass es schon lange feministische Bewegungen in islamischen Ländern gibt und Autorinnen, die die Position der Frau sowohl aus theologischer als auch aus soziologischer Sicht untersucht und immer wieder Vorschläge unterbreitet haben, wie die Situation verändert werden kann.

Faktisch hat sich in den letzten Jahrzehnten nur die Lage eines Großteils der Frauen aus den Ober- und Mittelschichten verbessert, wo die Berufstätigkeit der Frau fast so normal wie im Westen ist. Die Frauen der Unterschichten haben dagegen wenig Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben. Weil die Regierungen der meisten islamischen Länder auch den Männern nur prekäre Arbeitsmöglichkeiten bieten, dient der Erhalt des Patriarchats in den Unterschichten der Stabilisierung der Klassenverhältnisse insgesamt. Und da die islamischem Migranten in Westeuropa meist aus Unterschichten stammen, haben wir es mit komplexen Problemlagen zu tun. Um so bedeutsamer ist die Aufgabe der Bildungseinrichtungen von Kita bis zum Gymnasium gegenüber den nachwachsenden jungen Muslime. Allen, die Verantwortung im Bildungssystem tragen, steht eine umfangreiche feministisch-muslimische Literatur zur Verfügung, die freilich meistens nur in kleineren Verlagen erschienen ist und in der großen Presse kaum Beachtung gefunden hat. Wenigstens ein paar muslimisch-feministische Autorinnen sollen kurz vorgestellt werden.

Nawal El-Saadwai

Die Ägypterin Nawal El-Saadawi, die in der Nasser-Zeit ein Gesundheitsamt leitete, das die Genitalverstümmelung von Mädchen bekämpfte, betont, dass der Islam der Frauen und einfacher Menschen weniger von der Kenntnis der heiligen Schriften und ihrer theologischen Interpretation bestimmt war als der der Männer, denn sie konnte nicht lesen. Um so besser verstanden sie den elementaren Sinn der Offenbarung: „Meine Großmutter erzählte mir, Gott sei Gerechtigkeit. Und genau das bedeutet Religion für mich. Religion ist kein Buch.“ schreibt sie in ihrem auf Deutsch erhältlichen Aufsatz Der doppelte Standard.

Zineb Miadi

Nach Auffassung der Frauenrechtlerinnen wird auch heute die Offenbarung durch patriarchale Interpretation verdunkelt. Auch wird das universalistische Prinzip der „Gleichheit“ von Männer und Frauen oft als westlicher Import abgewertet. Es müsse aber auch in der eigenen Religion freigelegt und aktualisiert werden, deshalb ist ein inhaltlicher Kampf um die religiösen Texte notwendig. Die marokkanische Soziologin Miadi machte darauf aufmerksam, dass das im Koran häufig verwendete Wort „ennas“ in der patriarchalen islamischen Auslegung, aber auch in europäischen Koranübersetzungen mit „Mann“ gleichgesetzt würde, in Wirklichkeit jedoch „menschliches Wesen“ bedeute. Demnach wenden sich viel mehr Koranverse als bislang angenommen, an Männer und Frauen.

Samia Osman

Die in Kartum lehrende Ägypterin Samia Osman beschäftigten sich mit der patriarchalen Deutung einer der vielen grammatisch mehrdeutigen Koranpassagen: „Die Männer sind die Verantwortlichen über die Frauen, weil Allah die einen vor den anderen ausgezeichnet hat und weil sie von ihrem Vermögen hingeben.“ (Sure 4,34). Nach Osman „wird dieser Vers so gelesen, als hieße es 'weil Gott die Männer vor den Frauen ausgezeichnet hat'. Tatsächlich steht aber nur ganz allgemein, daß Er 'einige von ihnen vor den anderen ausgezeichnet hat', wobei keineswegs eindeutig ist, wer die einen und die anderen sind.“ So schreibt sie in einem Aufsatz über Die Stellung der Frau im Islam und im Okzient. Der Vers spreche nicht davon, dass Gott die Männer gegenüber den Frauen, sondern einige Männer gegenüber anderen Männern ausgezeichnet habe. Man müsse lesen: „Die Männer übernehmen die [materielle – S. K.] Verantwortung für die Frauen gemäß den Gaben, mit denen Gott sie vor den anderen (Männern) bevorzugt hat und auf Grund dessen, dass sie, (zugunsten der Frauen) ihr Vermögen ausgeben.“ Die eigentliche Aussage ist, dass Männer verpflichtet wurden, ihre Frauen gemäß ihrer Vermögenslage zu versorgen.

Fatima Mernissi

Ein reiches Instrumentarium, das noch heute zur Unterdrückung der muslimischen Frauen dient, sind die Hadithe – tausende in den ersten zwei Jahrhunderten des Islam gesammelte Zeugnisse über Aussagen des Propheten. Die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi empörte sich im Gymnasium über einen Hadith, wonach „der Hund, der Esel und die Frau das Gebet unterbrechen, wenn sie vor dem Gläubigen vorbeigehen, denn sie stellen sich zwischen ihn und die Quibla [Gebetsrichtung –S. K.].“ Sie fragte sich: „Warum soll der Prophet ein Hadith gesagt haben, das mir wehtut?“ Mernissis Hauptwerk Der politische Harem bietet eine historisch-kritische Sicht auf die Koranpassagen und Hadithe über Frauen. Mernissi hebt die meist verschwiegene Tatsache hervor, dass die aus dem 8. und 9. Jahrhundert stammenden Sammlungen gerade zu Frauenthemen gegensätzliche Hadithe enthalten, in der Praxis bis heute aber vor allem die frauenfeindlichen Hadithe bekannt gemacht werden. Dabei hatten die ursprünglichen Sammler das Für und Wider der Quellen zu prüfen versucht und durch Präsentation gegensätzlicher Hadithe den Zweifel zum Prinzip erhoben. Als Quelle des Hadith, der Frauen und Tiere gleichermaßen als Störfaktoren des männlichen Gebets ansieht, gilt Abu Hureira, ein Hausdiener des Propheten, der oft in Konflikt mit dessen Gattinnen geriet. Aischa soll ihm geantwortet haben: „Ihr vergleicht uns nun mit Eseln und Hunden. Allmächtiger Gott, ich habe den Propheten gesehen, wie er sein Gebet verrichtete, und ich lag auf dem Bett zwischen ihm und der Quibla. Um ihn nicht abzulenken, versuchte ich, mich nicht zu bewegen.“

Auf Abu Hureira gehen auch Hadithe zurück, in denen Geschlechtsverkehr und Menstruation als eine von der Frau ausgehende Quelle der Beschmutzung gelten, die ebenfalls das Gebet der Männer ungültig machen. Manche Moscheen verweigern Frauen den Zutritt, weil sie gerade menstruieren könnten. Auch dazu fand Mernissi Gegenhadithe der Prohetengattinnen. Um Maimuna sagte: „Zuweilen rezitierte der Prophet den Koran, wobei er den Kopf auf das Knie von einer von uns Frauen gelegt hatte, die ihre Regel hatte. Es geschah auch, daß eine von uns seinen Gebetsteppich in die Moschee trug und ihn ausbreitete, während sie ihre Regel hatte.“

Das nachweislich hohe Alter der Hadith-Sammlungen zeigt, dass es bereits in der islamischen Urgemeinde einen Streit um diese Fragen gab. Seine Wiederaufnahme kommt dem heutigen Kampf um Gleichberechtigung zugute. Mernissi setzt sich auch mit Koranpassagen auseinander, die unzweideutig eine Benachteiligung der Frauen beinhalten, wie die dem Mann gestatte Züchtigung der Frau. Sie zitiert Hadithe, nach denen Mohamed sie schließlich nur erlaubte, weil ein großer Teil der Männer drohte, ihm ansonsten die Gefolgschaft zu verweigern. Der alte Hadith über Mohameds Zweifel über das Züchtigungsrecht suggeriert den Zweifel, ob es von Gott gewollt ist. Mernissi ist überzeugt, dass es Mohameds politisches Ziel war – gemäß der Offenbarung – die Benachteiligung der Frauen und die Sklaverei zu beseitigen.

Allgemein fällt auf, dass die religionskritische feministische Literatur aus islamischen Ländern mit der des Christentums und Judentums durchaus parallelisiert werden kann. Kein Wunder, die Unterdrückung der Frau und insbesondere ihrer Sexualität hat in den drei abrahamitischen Religionen dieselbe Wurzel. In allen drei Kulturkreisen haben Frauen bis heute Gründe, sich dafür einzusetzen, dass Gott keine unterschiedliche Rechte und Pflichten für Männer und Frauen vorgeschrieben haben kann. Die feministische Theologiekritik kommt daher nicht nur der Emanzipation der Frauen zugute, sondern auch den interkulturellen Dialogen. Last but not least gibt es heute nicht nur Pfarrerinnen und Rabinerinnen. Souad Saleh, ägyptische Professorin für islamisches Recht gilt als erster weiblicher Mufti. Sie beantwortet in religiösen Satellitenprogrammen live Anfragen aus der ganzen Welt.

Nawal El Saadwai Der doppelte Standard. In: Menschenbilder, Menschenrechte. Islam und Okzident, hrsg. v. Stefan Batzli u.a., Zürich 1994, S. 104112

Samia Osman Die Stellung der Frau im Islam und im Okzident, ebenda S. 5068 Zineb Miadi Gleiche Rechte für Mann und Frau im Koran, ebenda, S. 9399

Fatima Mernissi, Der politische Harem. Mohammed und die Frauen, Freiburg 2002 Dies., Islam und Demokratie. Die Angst vor der Moderne, Freiburg, 2002

Dies., Die vergessene Macht. Frauen im Wandel der islamischen Welt, Frankfurt (Main), 1999 Marko Tomasini: Feminismus im Islam. Fatema Mernissi und Nawal el Sadawi im Vergleich, München, 2007


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