Happy End Enteignung: Die lange Geschichte der Vergesellschaftung
Daseinsvorsorge In Berlin klingt die Koalition aus CDU und SPD, als würde sie bald die ganze Stadt vergesellschaften und nicht nur Immobilienkonzerne enteignen wollen
Der Berliner Fernsehturm gehört heute einer Telekom-Tochtergesellschaft, die seit Kurzem zu 51 Prozent zwei Investmentfirmen aus den USA und Kanada gehört
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Als kürzlich bekannt wurde, dass der neue schwarz-rote Berliner Senat ein sogenanntes Vergesellschaftungsrahmengesetz verabschieden möchte, war die Überraschung groß. Sollte das die gesetzliche Antwort auf das erfolgreiche Volksbegehren vom Herbst 2021 sein? Eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen hatte damals für die Enteignung renditeorientierter Immobilienkonzerne gestimmt. Daraufhin installierte der Senat eine Expertinnenkommission. Ein Jahr Zeit bekam diese, um zu prüfen, ob und wie das Vorhaben verfassungskonform umgesetzt werden könnte.
Ist die Empfehlung positiv, soll das Gesetz kommen. Kriterien für eine Vergesellschaftung nach Artikel 15 des Grundgesetzes will man dann finden, so steht es im Koalitionsvertrag. In den „Geschäftsfelde
8;ftsfeldern der Daseinsvorsorge“, heißt es, „z. B. Wasser, Energie, Wohnen“. Wasser? Energie? „Zum Beispiel“? Das geht weit über das hinaus, was die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ gefordert hat. Es klingt, als wollten sich CDU und SPD den Weg offenhalten, ganz Berlin zu vergesellschaften, zumindest die Basics. Die Vorsitzende der Vergesellschaftungskommission, die einstige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD), begrüßte die Ankündigung im Koalitionsvertrag sogleich. Bald, vielleicht noch im Mai, soll der Abschlussbericht der Kommission kommen. Man darf gespannt sein.Gefühle für das GrundgesetzDoch in welcher Tradition steht dieser ganze Wirbel um Vergesellschaftung eigentlich und was wäre daraus zu lernen? Die Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen“, die das Volksbegehren in Gang setzte, hatte den Begriff Vergesellschaftung nicht von Anfang an im Fokus. Sie entschieden sich für „Enteignung“. Die Mieterinnen der Stadt waren wütend. „Enteignen“ ist emotional aufgeladen, „enteignen“ polarisiert. Der Begriff sollte mobilisieren, der Ohnmacht ein Ventil geben. Erst als sich die Aktivistinnen auf den Weg machten, zu prüfen, auf welcher juristischen Basis ihre Forderung umgesetzt werden könnte, sind sie auf Artikel 15 gestoßen: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel“, so heißt es da, „können zum Zwecke der Vergesellschaftung in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden“. Gegen Entschädigung, wird noch ergänzt. Das ist ein Unterschied ums Ganze zum Artikel 14 Absatz 3. Der ermöglicht, worüber die ganze Zeit gestritten wurde, worum es aber nie ging: Enteignung. Anders bei Artikel 15. Da steht vor allem der Unternehmenszweck im Fokus. Vergesellschaftung schreibt Gemeinnützigkeit vor. Gewinnmaximierung ist nicht erlaubt. Das klingt gut, ist aber alles andere als voraussetzungslos. Noch nie kam diese Norm zur Anwendung, einen Präzedenzfall gibt es nicht, kein Mensch kann mit Bestimmtheit sagen, was das ist: „andere Formen der Gemeinwirtschaft“. Und was sind eigentlich „Produktionsmittel“?Der Artikel 15, so formulierte es ein Verfassungsrechtler, wurde aus dem Dornröschenschlaf geweckt. 61 Männer und vier Frauen, der Parlamentarische Rat, hatten ihn 1949 ins Grundgesetz verhandelt. Den Protokollen zufolge wollte nur die nationalkonservative Deutsche Partei den Artikel wieder aus der Verfassung streichen. Heute steht die FDP in dieser Tradition. Zweimal wollte sie ihn schon kippen. Ohne Erfolg.Vergesellschaftung war lange Zeit eine der zentralen Forderungen der Arbeiterbewegung. Es wurden und werden unterschiedliche Konzepte damit verbunden. Allen gemeinsam ist die Forderung, den Privateigentümern der Produktionsmittel die Entscheidung über die Art ihrer Verwendung aus der Hand zu nehmen. Ob dann aber der Staat darüber verfügt, oder regionale Einheiten wie Kommunen, ob Arbeiterinnenräte darüber verfügen, ob alle Sektoren oder nur bestimmte davon betroffen sein sollen, ob der Markt, das Geld oder die Konkurrenz damit aufgehoben wäre oder nicht, davon handeln jene ganz unterschiedlichen Vorstellungen. Lediglich darin, dass die Maximierung von Profit, den sich wenige aneignen, nicht mehr Zweck des Produzierens sein sollte, darin bestand Einigkeit. Das Wohl aller war das Ziel. Nicht mehr die Wirtschaft sollte die Gesellschaft kontrollieren, umgekehrt sollte es sein.Der historische Verlauf der Debatten um Vergesellschaftung kann als Reflex des jeweiligen Entwicklungsstands der kapitalistischen Produktionsweise gelesen werden. Im Gothaer Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands von 1875 hieß es, „die Befreiung der Arbeit erfordert die Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit gemeinnütziger Verwendung und gerechter Verteilung des Arbeitsertrages“. Als zentrale Propagandisten der Idee, Produktionsmittel zu vergesellschaften, gelten Karl Marx und Friedrich Engels. 1848 erschien das Kommunistische Manifest. Marx und Engels hatten es im Auftrag des Kommunistischen Bundes geschrieben. Es war eine Kampfschrift, eine flammende Rede gegen das Privateigentum an Produktionsmitteln. Engels kritisierte einige Jahrzehnte später eine Programmschrift Karl Kautskys als „matt“, riet ihm, doch zu schreiben, dass die Befreiung des Proletariats ohne die „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ unmöglich sei.Sozialisierung gewann nach dem Ersten Weltkrieg schließlich Verfassungsrang mit Artikel 156 der Weimarer Reichsverfassung. Es waren die Erfahrungen mit der Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg und schließlich die Novemberrevolution, die Vergesellschaftung als reale Möglichkeit aufscheinen ließen. Sogar eine hochrangig besetzte Sozialisierungskommission wurde installiert. Dennoch, der Artikel zur Sozialisation in der Weimarer Verfassung wird in der Literatur als zahnlos bezeichnet. Das ist nicht erstaunlich, war die ganze Verfassung am Ende doch ein Kompromiss zwischen bürgerlichen und sozialistischen Kräften. Auch die Sozialisierungskommission erzielte nicht die gewünschte Wirkung. Ihre Arbeit wurde von den Kritikern behindert, ihre Macht eingeschränkt. Auch Befürworter von Vergesellschaftung äußerten vor dem Hintergrund der Nachkriegswirtschaft die Sorge, der Produktionsablauf in der Industrie könnte durch Experimente gestört werden. Man wollte Stabilität und hatte offensichtlich wenig Vertrauen in die Selbstorganisationskräfte der ArbeiterinnenEs war das Wohlstandsversprechen der erst „frei“, dann wegen der vielen Streiks lieber „sozial“ genannten Marktwirtschaft, das die Idee von Vergesellschaftung nach dem Zweiten Weltkrieg sukzessive verdrängte. Vergesellschaftung fand zunehmend nur noch in Programmen und Proklamationen linker Parteien und Gewerkschaften statt. Im Dezember 1987 forderte der IG-Metall-Vorsitzende Franz Steinkühler vor dem Hintergrund drohender Stilllegungen die Vergesellschaftung der Stahlindustrie. Man findet einzelne Fälle, wo Vergesellschaftung nochmal aufpoppte. Eine breite Debatte gab es aber nie wieder. Vergesellschaftung hatte es auch deshalb schwer, weil der real existierende Sozialismus in Ostdeutschland und der Sowjetunion für sich beanspruchte, die Produktionsmittel bereits vergesellschaftet zu haben. Planwirtschaft lautete die dem entsprechende Wirtschaftsform. Stalin sprach explizit von „gesellschaftlichem Eigentum“. De facto aber wurde ein staatlicher, repressiver Machtapparat etabliert, der auf einer zentral gesteuerten Kommando- und Befehlsstruktur basierte. Mangelwirtschaft und politische Unfreiheit waren Kennzeichen jener Planwirtschaften.Nach dem NeoliberalismusDiese Negativszenarien werden bis heute mit Vergesellschaftung in Zusammenhang gebracht. Insbesondere ihre Gegnerinnen instrumentalisieren dies. Franziska Giffey (SPD), jetzt Senatorin für Wirtschaft, Energie und Betriebe, spielte die Karte im Vorwahlkampf besonders gerne. Auch dem Siegeszug der neoliberalen Ideologie war dies dienlich. Die Privatisierungsoffensiven, mit denen die Regierungen seit den 1980ern ganz Europa überzogen, hatten die Argumente auf ihrer Seite, vor allem jenes, dass Privateigentum effizienter sei. Es würde zu ungeahnter Produktivität führen, die Wettbewerbsfähigkeit stärken, Wachstum und Wohlstand für alle schaffen. Bei Thomas Piketty finden wir allerdings, dass die Privatisierungen einer der Treiber der weltweit gewachsenen sozialen Ungleichheit waren. Auch den Klimawandel buchen nicht wenige auf das Konto des Privateigentums. Möglicherweise sind es jetzt die Folgen des neoliberalen Kapitalismus, die der Vergesellschaftung eine Renaissance bescheren.Wenn die Kommission in Berlin dem Senat das Signal gibt, ein Vergesellschaftungsrahmengesetz zu formulieren, wird dies das Thema hoffentlich dorthin hieven, wo es hingehört: in eine breite öffentliche Debatte. Werden die Aktivistinnen recht behalten, die von einem „Vergesellschaftungs-Verschleppungsgesetz“ sprechen? „Das Gesetz tritt zwei Jahre nach seiner Verkündung in Kraft“, steht im Koalitionsvertrag. Da ist dieser Senat vielleicht nicht mehr im Amt.Was ist aus alldem zu lernen? Vergesellschaftung hat eine lange Geschichte, aber kein Vorbild, ist bei Regierungen nicht gut aufgehoben, braucht Fantasie und Initiative „von unten“, Lust auf Veränderung jenseits ausgetretener Pfade und vor allem Durchhaltevermögen. Es gibt mächtige Gegner.Placeholder authorbio-1