Adolf und ich werden schon miteinander auskommen

Unfassbar Amir Gutfreunds provokativer Roman "Unser Holocaust"

Debüt-Romane, so könnte man behaupten, sind Bücher, die von ihren Autoren geschrieben werden müssen; Bücher, deren Entstehung sich tatsächlich einer Notwendigkeit verdankt. Amir Gutfreund, der 1963 in Haifa geboren wurde, studierte Mathematik und arbeitet heute für die israelische Luftwaffe. Sein Debüt Shoa Shelanu, wörtlich übersetzt Unsere Shoa, erschien in Israel im Jahr 2000. Ein provozierender Titel, weil er nämlich darauf hinweist, dass es natürlich auch in Israel Meinungsverschiedenheiten darüber gibt, wem die Shoa "gehört". Die Familiengeschichten, die Gutfreund skizziert, gehen in der offiziellen Erinnerungskultur nicht unbedingt auf: Der Schrecken, den die Erinnerungen und das Schweigen eines kleinen, klar umrissenen Personenkreises alter Überlebender für die Kinder der zweiten, dritten Generation verbreitet, wird in diesem Buch nicht funktionalisiert; das heißt, es geht dem Autor nicht darum, die Identität der Nachkommen mithilfe der Shoa zu stabilisieren.

Amir Gutfreunds Ich-Erzähler Amir beschreibt zunächst in großen Zügen die Jahre seiner "wunderbaren" Kindheit während der sechziger, siebziger Jahre. Für die Kinder gilt ein von den Eltern erfundenes "Verdichtungsgesetz": Das Fehlen von tatsächlichen leiblichen Angehörigen, die größtenteils von den Deutschen umgebracht wurden, schuf die Notwendigkeit, es mit der Verwandtschaft nicht zu genau zu nehmen - und so sprechen die Kinder auch entfernte Verwandte als Großvater oder Onkel an. Großvater Lolek, der bezeichnenderweise während des Krieges in relativer Sicherheit lebte, ist die einzige Figur, die von Gutfreund mit unverhohlenem Spott gezeichnet wird, als vitaler, grimmiger Geizhals, der einen Teebeutel wochenlang benutzt und schließlich beiseite bringt; die Kinder vermuten, er will aus den gesammelten alten Teebeuteln eine Matratze nähen. Um Lolek muss man sich nicht sorgen, selbst wenn er eine Tumoroperation vor sich hat. Es reicht, dass der inzwischen erwachsen und selbst Vater gewordene Erzähler ihm zuraunt, die Preise für Grabsteine seien teurer geworden - da wird der Alte die Operation glänzend überstehen. Der Witz hört auf, wenn es um all die anderen Überlebenden der Shoa geht, um Opfer, die nicht wirklich lebendig sind, um Angehörige, deren Verhalten den Nachgeborenen anfangs unklar ist -aber je älter sie werden, je mehr sie verstehen, desto weniger "verstehen" sie. Die Shoa ist nichts, was sich verstehen, was sich fassen ließe, das ist eine der Mitteilungen dieses Buchs.

Einschub: Der Roman Shoa Shelanu, also sinngemäß "unser großes Unheil, unsere große Katastrophe" erscheint hierzulande unter dem Titel Unser Holocaust, also, "unser großes Opfer". Man kann sich fragen, warum der Berlin-Verlag einen Ausdruck bevorzugt, der religiöse Zusammenhänge assoziieren lässt, wo es doch um ein historisch genau zu bestimmendes Menschheitsverbrechen geht. Damit zurück zu den jüdischen Opfern der Naziherrschaft, die lebenslänglich unter den Erinnerungen leiden - und zurück zu den Tätern, die so schnell vergessen konnten. Amir Gutfreund beschreibt auf der einen Seite die Odysseen einiger Onkel, Großväter, Nachbarn. Und er zählt seitenlang Namen und Lebenswege von Nazis auf, die nach 1945 entweder gar nicht erst erwischt wurden, oder die nach kurzer Haft ein geruhsames bürgerliches Leben führen. Die entsprechenden Passagen sprühen vor Bitterkeit, vor Wut, ja vor Hass auf diejenigen, die Begriffe wie "Wiedergutmachung", "Entschädigung", "Versöhnung" oder "Schlussstrich" in den Mund zu nehmen wagen. Als ein junger deutscher Wissenschaftler, Hans Odermann, mit Amir und seiner Freundin Effi zusammentrifft, sagt sie dem Deutschen ins Gesicht: "Adolf und ich werden schon miteinander auskommen". Effi und Amir haben keineswegs den Wunsch, Hans, dem Nachkommen der Nazis gegenüber gerecht zu sein. Man begreift es. Man kann es auch nach mehr als 50 Jahren begreifen angesichts der hier noch einmal aufgelisteten Tatsachen aus den Jahren 33-45, aber auch angesichts der hierzulande immer wieder so dummdreist oder perfide geführten "Debatten". Erbitterung also, Wut und Hass - und damit nähert sich Gutfreunds Buch seinem Schmerzpunkt, es nähert sich der Frage nach der eigenen Gegenwart und Zukunft: Wird sich in seinem eigenen Land ein Völkermord wiederholen können?

Amir Gutfreund gibt eine allgemein gehaltene, abstrakte, dabei trostlose und desillusionierte Antwort, die hier mit einigem Bedenken zitiert wird: "Käme hier ein totalitäres Regime an die Macht, das Minderheiten vernichtet, würden lediglich ein paar letzte Zuckungen des Anstands eine jüdische Neuauflage des Dritten Reichs hinauszögern. Ja, auch hier wäre so etwas möglich. Sicher, es würde Widerstand geben. ... Ich durchleuchte mein Umfeld nach jenen, die das neue Regime mit aufbauen würden. Alle sind sie schon hier ... der Kollaborateur, der Denunziant ... der Chef der Polizei, die getreuen Soldaten, die nur Befehle ausführen". Das Bedenken läuft auf Folgendes hinaus: Lektüren sind kontextabhängig, und das heißt auf den Roman bezogen, dass es wahrscheinlich gerade für die in Israel wohnenden Überlebenden der Shoa äußerst hart ist, solche Sätze zu lesen. Andererseits kann man fürchten, die ganz normale rechte "Mitte" hier in Deutschland nickt zu den zitierten Sätzen zustimmend, fühlt sich entlastet - wie wahr; und wie gut und wie schön, wenn ein Jude sagt, der Mensch sei überall zu allem fähig, nicht nur der deutsche Mensch. Aber Gutfreunds fulminanter Roman ist keine Entlastung der Deutschen; und gegen eine die Deutschen entlastende, selbstgefällige Lesart soll hier noch ein Lektüreeindruck erwähnt werden, der seinerseits in die entgegengesetzte Richtung zielt.

Das Buch ist wie gesagt ein Debüt, es weist einige Ungeschicklichkeiten auf. Der Gestus des rein additiven Aufzählens bremst manchmal den Schwung des Textes. Auch gibt es einige Längen; und manchmal vermengt der Autor dokumentarische, autobiografische und fiktionale Passagen in einer Weise, die nicht unmittelbar einleuchtet. Das alles stört nicht groß - aber der Schluss des Buchs hat die Rezensentin doch sehr verstört: Amir Gutfreund biegt beinahe gewalttätig einen Ausgleich hin, eine Art Aussöhnung im Leid. So stellt sich einerseits heraus, dass auch Hans Odermanns Familie Opfer der NS-Rassenpolitik ist - andererseits gab es auch in der Familie von Amirs Frau jüdische Kollaborateure. Eine simple schwarz-weiß-Sicht ist für den Ich-Erzähler demnach nicht mehr möglich, vielmehr käme es darauf an, heißt es schließlich in goldenen Worten, Brücken von Mensch zu Mensch zu bauen. Man fragt sich, ob der Autor meint, zum Ende hin versöhnlich werden zu müssen. Die Einsichten ganz am Schluss sind bezeichnenderweise stilistisch keineswegs überzeugend. Überhaupt knirscht die Konstruktion des Schlusses , und die Rezensentin hatte den irritierten Eindruck, die letzten Seiten seien ausschließlich mit dem Kopf geschrieben worden, so angestrengt und bemüht wirken sie. Sie fallen literarisch gegenüber dem Rest des Romans auffallend ab. Was würde das bedeuten? Es würde darauf hinweisen, wie tief die Traumata auch noch bei den Kindern der Überlebenden sitzen. Es würde daran erinnern, dass es auch noch für die Juden der zweiten und dritten Generation einer gewaltigen rationalen wie emotionalen Anstrengung bedarf, Deutschen ihrer Generation zu begegnen.

Amir Gutfreunds Roman sollte wahrscheinlich in Israel und in Deutschland unterschiedlich gelesen werden. Wenn der Autor sich und seinen Landsleuten provozierend zu bedenken gibt, ein Völkermord könne auch in Israel geschehen, dann hebt er die universelle Bedeutung der Shoa hervor. Er versucht also, die Shoa der Instrumentalisierung zu entziehen, er will vermutlich nicht zulassen, dass man sie zur Rechtfertigung aktueller Politik heranzieht. Umgekehrt sagt Gutfreunds Roman den deutschen Lesern: Die Shoa als etwas Vergangenes ist nicht "vorüber". Gerade in Deutschland sollte das, was an der Shoa universell ist, immer wieder partikularisiert, konkretisiert werden, in der Erinnerung auch an die Täter.

Amir Gutfreund: Unser Holocaust. Roman. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Berlin, Berlin 2003, 640 S., 24,90 EUR


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