Jinhi ist eine Musterschülerin, überhaupt ein Musterkind. Während der sechziger Jahre wächst sie in der südkoreanischen Provinz bei ihrer Großmutter, dem Onkel und seiner Schwester, der lebenshungrigen Tante Yongok auf, denn Jinhis Mutter ist tot und der Vater verschwunden. Die zwölfjährige Ich-Erzählerin im jüngsten Roman der in Südkorea viel gerühmten Eun Heekyung schildert diverse Episoden aus Jinhis Alltag; es gibt zwar eine Rahmenhandlung, aber eine Entwicklung findet nicht statt. Die Zeit scheint stillzustehen, wenn Jinhi schließlich als erwachsene Frau sagt, die neunziger Jahre seien wie die sechziger.
Wer etwas über die gesellschaftliche, politische Situation dieser Zeit wissen möchte, erfährt davon nur beiläufig etwas. Lediglich im Vorübergehen ist die Rede von der Präsenz des Militärs, von dem Versuch der Tante, sich durch die Operation der Augenlider einem westlichen Schönheitsideal anzupassen, von Opportunismus und Korruption auf allen gesellschaftlichen Ebenen, von der Schließung der Universitäten wegen drohender studentischer Demonstrationen, von der Modernisierung auch auf dem Land und dergleichen. Diese Beiläufigkeit muss man dem Roman nicht vorhalten; man kann, dem Nachwort folgend, einfach konstatieren, dass offenbar seit den neunziger Jahren in der südkoreanischen Literatur mehr als zuvor versucht wird, Geschichte durch den Alltag zu erfassen und das Individuelle, Subjektive zu betonen.
Die Befindlichkeit und die Beobachtungen einer Zwölfjährigen im Südkorea der sechziger Jahre also. Um hiesige Leser zu interessieren, muss solch ein Buch einen Unruheherd haben. Wenn es ihn gibt, liegt er in Jinhis Charakter, in ihrer herausfordernden Behauptung, sich nach dem zwölften Lebensjahr nicht mehr weiterentwickeln zu müssen. Jinhi hat gleich am Anfang des Romans eine Liste derjenigen Phänomene angelegt, an die man nicht glauben darf, und stellt sehr altklug, sehr zynisch fest, woran zu glauben legitim ist: An nichts. Das wird durchgespielt: Jinhi macht eine Art von Exerzitium durch, sie übt sich in Gefühlsabhärtung. Ihre Mutter war depressiv und hat sich umgebracht, und das Kind wird von diversen Verwandten und Nachbarn immer wieder in diesen Kontext zurückgezwungen: Sei es, dass man es mit übergroßer Liebe und Mitgefühl behandelt, sei es, dass man es misstrauisch beäugt und ihm etwas vorlügt.
Auch dieser Zusammenhang wird eher beiläufig erwähnt; interessant sind die Folgerungen Jinhis. Sie betreibt die Zweiteilung der eigenen Person; spaltet sich in ein sichtbares und ein sehendes Ich. Das sichtbare harmlose Musterkind verhält sich viel länger als die Mitschüler "kindgemäß"; das sehende Ich weiß, dies ist die beste Strategie, die eigenen Interessen wahrzunehmen und dabei die sämtlicher Mitmenschen zu unterlaufen. So kann sie in aller Unschuld ihren gelegentlich aufkommenden Sadismus ausleben. Aber vor allem will Jinhi hinter die Geheimnisse der Erwachsenen kommen, hinter das, was Liebe und Sexualität bedeuten.
Die Großmutter mit ihren starren, einem konfuzianistischen Weltbild folgenden Auffassungen von den Pflichten der Frauen - sie sollen ihr jeweiliges Schicksal annehmen, dem ersten Mann folgen und Kinder gebären - ist ihr so fremd wie ihre flatterhafte 20-jährige Tante; "unreif", "unerwachsen" ist das Urteil über Yongkok, die von ihren Liebesgeschichten nur so geschüttelt wird und die von Jinhi, meist vergeblich, beraten wird. Das Mädchen beobachtet mit ironischem, sezierendem Blick die Muster zwischen Männern und Frauen, sieht die Scheinheiligkeit in der doch überall so hoch bewerteten Anständigkeit, es macht seine eigenen Entdeckungen und zieht kühle Schlüsse. Dabei können einem die zahlreichen Sentenzen und Lebensweisheiten teilweise auf die Nerven gehen.
Liest man den Roman wortwörtlich, lässt er einen kalt. Coole Mädchen, wann und wo auch immer, gibt es wirklich genug. An nichts zu glauben und sich keinem Gefühl zu überlassen, ob es Ekel, Schmerz oder Liebe ist - das führt nicht etwa in die Souveränität oder gar "Freiheit". Es führt in absolute Anpassung bei gleichzeitiger Isolation, es führt in den Stillstand. Man kann sich fragen, ob das der 1959 geborenen Autorin bewusst ist; sie selbst hat in Interviews betont, dass das Distanzhalten, die Zweispaltung der Person nicht nur eine Methode des Erzählens, sondern auch eine Einstellung zum Leben ist, die sie für Realismus hält. Aber vielleicht kann man sagen, der Text "weiß" schließlich auch hier noch etwas anderes als Jinhi und/oder Eun Heekyung.
Die Schutzmechanismen, die hier so oft vor Verletzung bewahren, entfernen Jinhi von dem, was "Leben" ausmacht. Man ist geradezu dankbar, dass sich, etwa als Jinhis Vater auftaucht, ihr Blickfeld trübt und geweint wird. Aber dann geht es gleich wieder weiter: Endlich muss sie sich nicht mehr schämen, denn sie bekommt eine Stiefmutter und wird in einer normalen Familie aufwachsen, wird sein wie alle; 38-jährig verweist sie ironisch darauf, wie zuverlässig sie ihr Leben gestaltet hat, sie geht wählen, kann auf Freundschaften verweisen, übt einen Beruf aus.
Natürlich haben sich auch in Südkorea in den letzten 40 Jahren große Umbrüche vollzogen, nicht zuletzt im Geschlechterverhältnis; Frauen sind sichtbarer in der Gesellschaft geworden, können mit größerem Selbstbewusstsein an die Öffentlichkeit treten. Ein Geschenk des Vogels ist allerdings kein "positiver" weiblicher Entwicklungsroman, der durch Nacht zum Licht führt. Das Buch zeigt an einem individuellen Beispiel, dass sich die Generationen der Großmutter und Enkelin nur graduell unterscheiden: Das Leben wird hingenommen, ob vor dem Hintergrund eines traditionellen Weltbildes oder aus Ironie und Selbstentfremdung. So gesehen, ist das ein trauriger Roman.
Eun Heekyung: Ein Geschenk des Vogels. Roman. Aus dem Koreanischen und mit einem Nachwort von Inwon Park und Anja Michaelsen. Pendragon, Bielefeld 2005,
240 S., 18,50 EUR
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