Doktor Khalil ist "ein zeitweiliger Arzt in einem zeitweiligen Krankenhaus in einem zeitweiligen Land". Er ist eigentlich kein Arzt, sondern höchstens ein in China notdürftig ausgebildeter Krankenpfleger. Sein Vorgesetzter stiehlt Medikamente und verschachert sie; ohnehin fehlt es am Nötigsten, Angehörige pflegen die paar Patienten, schließlich ist eigentlich nur noch einer da, der alte Yunus, der im Koma liegt. Beirut, Flüchtlingslager Schatila, Anfang der neunziger Jahre.
Die Rahmenhandlung des neuen Romans von Elias Khoury ist einfach: Khalil pflegt den Komapatienten, der von allen andern aufgegeben wurde, monatelang rund um die Uhr, er verlässt das Krankenhaus nahezu nicht mehr, was auch ein Vorwand ist, um der blutigen Rache eines Clans zu entgehen. Khalil macht das, was in der Behandlung von Komapatienten oft angeraten wird, er spricht zu Yunus, er breitet einen Erinnerungsteppich vor ihm aus, hüllt ihn in Worte, erzählt aus Yunus´ und der eigenen Geschichte. Es ist die Geschichte der Palästinenser von etwa 1936 bis in die neunziger Jahre.
Elias Khoury, der 1948 in Beirut geboren wurde und als einer der literarischen Anwälte der Palästinenser gilt, hat mit dem Tor zur Sonne ein vielstimmiges, komplexes, für hiesige Leser auch reichlich verwirrendes Epos vorgelegt, an dem man sich einige Zähne ausbeißen kann und wohl auch soll. Das hat entscheidend mit der Art des Erzählens zu tun: Innerhalb der oben beschriebene Rahmenhandlung springt der Text zwischen verschiedenen Figuren und Jahren hin und her, er verweigert eine Chronologie, ständig wechseln die Perspektiven - der Roman selbst inszeniert eine Verstörung, von der es einmal heißt: "Sobald man euch fragt, was seinerzeit geschehen ist, werft ihr die Ereignisse wirr durcheinander, springt von Monat zu Monat, von Dorf zu Dorf, so als habe die Zeit sich in den Trümmern der zerstörten Dörfer aufgelöst. Meine Großmutter erzählte davon stets so, als reiße sie die Geschichten auseinander. Sie fügte sie nicht zusammen, sondern zerrupfte sie regelrecht. Und ich begriff nichts."
Es ist ein Verdienst des Romans, Widersprüche nicht aufzulösen, Geschichte nicht als ein in sich schlüssiges Kontinuum darzustellen, sondern sie nachvollziehbar zu machen als einen Trümmerhaufen. Trotzdem hätte man sich gewünscht, dass den Übersetzungen ins Französische, Englische, Niederländische, Norwegische und Deutsche eine Zeittafel und vor allem eine detailierte Landkarte beigefügt worden wäre: Wenn hiesige Leser nicht über eine relativ genaue Karte von Palästina/ Israel und den Nachbarstaaten verfügen, lässt sich anhand des Textes selbst oft nur schwer nachvollziehen, was Vertreibung und Flucht im Einzelnen konkret bedeuten. Dem Roman zufolge haben sie keinen Anfang und kein Ende.
Sucht man trotzdem nach einem Anfang, lässt sich allenfalls feststellen: Großeltern, Eltern und Kinder lebten in Clans und Dorfgemeinschaften in Galiläa, und es war gut im Land der Olivenhaine. Damit gehen die Fragen los, die in den Roman locker eingestreut sind. War es früher gut? Lebte man nicht furchtbar arm und erklärte die Oliven zum Allheilmittel, die Fleisch, Räucherwerk, Medikamente ersetzten? Die Israelis kamen und nahmen den Leuten die Dörfer und das Land weg, heißt es: Aber was war mit dem Landverkauf an Juden auch durch die eigenen Clanoberhäupter? Wie kann man widersprüchliche Parolen schlucken und permanent den politischen Kurs und die Bündnisse wechseln?
Die Jüngeren sind fast alle in Flüchtlingslagern geboren, sie sind ein "Videovolk", das in Schatila und anderswo "Heimat" aus den Bildern von "Heimat" baut. Und was heißt Krieg? Die Älteren dachten, Krieg sind marschierende Heere, "sie hatten keine Ahnung, daß diesmal sie selbst der Krieg waren, der Krieg ohne Namen". Nein, sagt einer, wir sind keine Kämpfer, wir sind Bauern und wollen in Ruhe die Felder bestellen, die Luft atmen, weiter nichts. Doch, sagt ein anderer, wir werden Palästina befreien. Aber Israel ist stärker. Aber Akko sieht noch aus wie früher, tröstet man sich, die Moschee ist noch da, alles ist noch da. Aber das ganze heutige Land wirkt europäisiert. - Aber, aber, aber: Die eine Rede und Sichtweise ergänzt die andere und widerspricht ihr. Es gibt kollektive Erfahrungen; die Berichte von israelischen Überfällen, von Massakern oder von Gefängnisaufenthalten ähneln sich, und doch ist Khoury bemüht, das palästinensische historische Narrativ fort und fort aufzufalten. Seine Figuren zweifeln häufig an der eigenen Darstellung, sie verändern ihre Sichtweise im Lauf von Jahrzehnten, und besonders Khalil denkt oft selbstkritisch. Die hehre Ansicht allerdings, dass solche Haltung unmittelbar positive Folgen nach sich ziehen könnte, ist Wunschdenken, das weiß jeder, der sich mit der aktuellen palästinensisch-israelischen Geschichte beschäftigt. Denn tatsächlich repräsentieren die selbstkritischen Stimmen auf palästinensischer wie israelischer Seite ja keineswegs eine Mehrheit.
Auf Khourys Buch bezogen muss man sagen: Der Roman Das Tor zur Sonne führt seinerseits nicht "ins Licht", in eine friedliche Zukunft. Tatsächlich ist das "Sonnentor" eine Höhle; Yunus traf dort jahrelang heimlich seine Frau Nahila, wenn er, illegal aus dem Libanon kommend, Stacheldrahtzäune überwand, um sie zu sehen. Das Sonnentor ist ein privater Fluchtpunkt für ein Liebespaar, der sozusagen aus der Wirklichkeit hinausführt in einen Raum der Träume, in ein Stück freies Palästina. Bezeichnenderweise aber verfügt Nahila vor ihrem Tod, das Sonnentor solle zugemauert werden, bis eines Tages, wann auch immer, ein neuer Yunus kommen und ein neues Dorf mit dem Namen "Sonnentor" gebaut würde. Einstweilen aber trennt die Naqba, die palästinensische Katastrophe, weiterhin die Bevölkerung von ihrer Vergangenheit, von ihren Feldern, Dörfern, Häusern. Sie trennt Ehepaare - Nahila bekommt die israelische Staatsbürgerschaft, Yunus bleibt ein Illegaler - und sie wirkt als Riss zwischen den Generationen etwa in dem Sinn, dass Yunus sich nicht mit seinen Söhnen abfinden kann; die haben pragmatische Ziele - wie die Eröffnung einer Autowerkstatt.
Elias Khoury eröffnet mit seinem Roman keine politische Perspektive, aber das kann man ihm nicht vorhalten - wer weiß denn momentan tatsächlich die Lösung für den palästinensisch-israelischen Konflikt? Das Buch macht aber trotz seiner oben erwähnten Leseanstrengung, trotz des Strudels von Begebenheiten die Gefühle nachvollziehbar, die Palästinenser erleben, und zwar einmal aufgrund der eigenen individuellen Geschichte, andererseits, weil jeder Einzelne sozusagen ein Echoraum aller übrigen ist. Khoury bleibt nicht vollständig auf der palästinensischen Seite. Ein kleiner Seitenstrang seines Romans führt Djamal, einen überzeugten palästinensischen jungen Kämpfer vor. Plötzlich stellt sich heraus, seine Mutter ist eine deutsche Jüdin, die aus Liebe zu ihrem Mann zum Islam konvertierte. Der Sohn stellt heillos verwirrt fest, er könnte alles sein, Deutscher, Jude, Palästinenser, und er sucht seinen Onkel auf, einen seinerseits überzeugten jüdischen Israeli. Im Streit raten sie sich gegenseitig: Der Palästinenser solle Syrer, Libanese, Jordanier oder Ägypter werden beziehungsweise der Israeli solle zurückgehen nach Europa und sich dort integrieren. Also gut, sagt Djamal, wir beide verschwinden, "dann ist dieses Land frei von Menschen. Wir machen daraus eine Anlage für Touristen und religiöse Fanatiker aller Nationen."
Die beiden werden sich natürlich nicht einig, jeder beharrt aus seiner Geschichte auf seinem Recht. Die erst gegen Schluss auftauchende Nebenfigur Djamal ist insofern bedenkenswert, als Khoury hier eine Volte schlägt: Vom palästinensischen Partikularinteresse hin zu einem universalistischen Ansatz, zu einem Menschen hin, der alles ist oder sein kann - und der deshalb seinen Frieden mit dem Zeitgenossen und Mitmenschen auf der anderen Seite schließen könnte.
Diese multiple Identität als Jude und Palästinenser und Deutscher (auch das noch), ist in der Realität nicht gerade typisch; sie wirkt stark konstruiert. Als literarische Figur taucht eine solche gewagte Wendung interessanterweise in zunehmend mehr Büchern auf, die sich mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts und ihren Folgen befassen; im weitesten Sinne kann man sagen, Opfer und Täter werden vermengt, eine klare Differenz zwischen ihnen wird aufgelöst. So ekelerregend einerseits das Interesse etwa von deutschen Tätern an einer Entschuldung ist, so wichtig es andererseits in anderen Zusammenhängen sein kann, von einer manchmal zu einfachen Schwarzweißmalerei wegzukommen: Vielleicht hätte Elias Khoury auf die Djamal-Episode verzichten können. Möglicherweise steht vor einem menschheitsumfangenden Universalismus, der sich erfahrungsgemäß schnell in Luft auflöst, der Partikularismus. Das hieße unter Israelis und Palästinensern konkret: Die Existenz des Anderen mit seiner anderen Geschichte und anderen Identität anzuerkennen.
Wer sich auf Khourys Roman einlässt, erfährt keine Aufklärung in dem Sinn, den israelisch-palästinensischen Konflikt politisch hieb- und stichfest analysieren zu können. Das ist auch nicht die Aufgabe eines literarischen Werks. Das Tor zur Sonne konstruiert keinen heldenhaften Befreiungskampf, es zeigt keine gesichtslosen Massen von "Terroristen". Es richtet die Aufmerksamkeit auf Einzelmenschen. Sie haben Namen, Gesichter, sie tragen Verletzungen mit sich, sie wollen wahrgenommen und gehört werden.
Elias Khoury: Das Tor zur Sonne. Roman. Aus dem Arabischen von Leila Chammaa. Klett-Cotta, Stuttgart 2004, 780 S., 25 EUR
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