Der Schmerz der Anderen

Eins-Null Was lässt sich vom sicheren Deutschland aus über den Krieg im Nahen Osten sagen?

Wozu eine weitere Wortmeldung zum Krieg auf israelischem, libanesischem, palästinensischen Gebiet? Und das von hier, aus Deutschland, aus sicherem Abstand? Wenn die Bewohner der Stadt Haifa ihre Schutzräume aufsuchen müssen. Wenn Trinkwasser in Gaza fehlt. Wenn ganze Gemeinden im Südlibanon von der Außenwelt abgeschlossen sind. Wenn Flugblätter libanesische Zivilisten vor Angriffen warnen. Wenn Gemüsetransporte, Rotkreuzfahrzeuge, Wohnungen zerschossen werden. Wenn Orte Trümmerlandschaften werden. Wenn Ärzte die Verwundeten nicht mehr versorgen können. Wenn Leichen nicht geborgen werden können. Wozu da noch was? Wozu noch Sätze von hier, ohne aktuelle eigene Anschauung, angewiesen auf die - ja, doch - vielstimmigen Medien, auf die differenzierten und gröberen Interpretationen, auf die widersprüchlichen Aussagen und Lügen von Militärs da und dort? Obwohl - so weit ist der emotionale Abstand dann doch nicht. Denn seit ich zu Gast bei Israelis und Palästinensern war, verbinden sich mit Orten Namen und Gesichter.

Der fortgesetzte Bezug auf die deutsche, mit Israel verbundene und verhakte Geschichte findet sich hierzulande auf verschiedene Weise: Einige fühlen sich von der Tatsache, dass Palästinenser und Libanesen zu "Opfern der Opfer" werden, entlastet und verfallen in eine sachlich unangemessene, teils antisemitisch durchsetzte Israelkritik. Andere ziehen sich ins Schweigen zurück mit der Begründung, es stehe Deutschen nicht zu, Israel zu kritisieren. Wieder andere im Umfeld der "Antideutschen" steigern sich in eine euphorische Solidarität mit einem abstrahierten Israel, nicht zuletzt, um, wie sie sagen, Konsequenzen aus der verbrecherischen deutschen Geschichte zu ziehen. Doch ist den konkreten Menschen, den einzelnen Israelis damit in irgendeiner Weise geholfen?

Seit Wochen dieser nicht erklärte Krieg, einer dieser "neuen", asymmetrischen Kriege. Wer führt ihn gegen wen, und was ist das Interesse, kurz- und langfristig? Israel gegen Hamas, Hisbollah, Libanon? USA plus kleiner Bruder Israel=der Westen=die Demokratie=die Moderne gegen die Achse des Bösen=Hamas, Hisbollah, Syrien, Iran=islamischer Terrorismus, Diktatur? Geht es um die Hegemonie in Nahost, nicht zuletzt wegen der dortigen Energiequellen? Aber ist das nicht wieder, mit Abstand betrachtet, kurzfristig gedacht, wenn man liest, dass es mit dem Öl ohnehin bald ein Ende hat? Rechnen Politiker, Ökonomen und Militärstrategen durch, ob es "lohnt", für 50, 100 weitere Jahre gesichertes Öl ein Feuer nach dem anderen in Nahost anzufachen? Was sind das für "Realisten", für "Pragmatiker", für "Strategen", die um ihrer eigenen Position willen einen Flächenbrand im Nahen und Mittleren Osten riskieren? Was ist das für ein Krieg? Soll man sagen, es sind, wie historisch gesehen fast immer, auch jetzt Minderheiten, die ihn gegen Mehrheiten führen? Führende jeglicher Nationalität, politische Führer, militärische, ökonomische, Meinungsführer, die schließlich Massen aufstacheln und missbrauchen. Machtmenschen. Wer war es, der von ihnen einmal geschrieben hat: "Sie kennen einander und töten sich nicht, wir kennen uns nicht und töten einander"?

"Wir"? Ich sitze am sicheren Tisch in Hamburg und stelle mir den mittellosen, aus der ehemaligen Sowjetunion kommenden Juden vor, der von der israelischen Regierung das billige Wohnen in den okkupierten Gebieten angeboten bekommt, und der sein neues Zuhause in einer der Siedlungen im Westjordanland nun auch im Libanon verteidigt. Ich stelle mir den perspektivlosen palästinensischen Jugendlichen vor, der seine arbeitslose Familie finanziell unterstützen will, indem er sich von alten Männern in das nächsten Selbstmordattentat schicken lässt. "Wir"? Ich stelle mir die ganz normalen Zeitgenossen im Libanon, Palästina, Israel vor und, was sie als Individuen sich wünschen. "Lass mich leben". Ums Leben bitten, und erhört werden. Ein Traum, den keine Regierung auszusprechen wagt. Einstweilen reden sie nicht miteinander, beziehungsweise sie verschweigen den Bevölkerungen, was sie reden.

Mir scheint, auch am jetzt stattfindenden Krieg haben auf allen Seiten die Vertreter von Null-Eins-Strukturen ein Interesse: Hier die Gotteskrieger, da das nicht existierende "eine" Amerika-Israel als verteufeltes Symbol für Erniedrigung und Unterdrückung. Umgekehrt dasselbe: Hier die Guten, die Demokraten, da die Fundamentalisten, die islamischen Terroristen, die undifferenziert zusammengeworfen werden: Al Quaida, Hamas, Hisbollah, PLO, Fatah - alles eins. Terrorismus ist, soweit ich weiß, völkerrechtlich nicht eindeutig definiert. Das macht nichts. Faktisch reicht die Behauptung, ein Staat, eine Bewegung sei terroristisch, aus, das Völkerrecht außer Kraft zu setzen. Ja: Hisbollah hat mit der Entführung der Soldaten in dem so elend lang anhaltenden Konflikt, dessen Strukturen gleich sind, auch wenn die je aktuellen Akteure wechseln, das ihre getan. Dass Israel Vertreter des - demokratisch gewählten - palästinensischen Parlaments verhaftete, wird seltener erwähnt.

Lassen sich Aktion und Reaktion noch unterscheiden? Will man Menschen gegeneinander aufrechnen? Wie kann man sich zu diesem Krieg jetzt äußern? Auch das Wort "unverhältnismäßig" im Zusammenhang mit den israelischen Angriffen ist eine von diesen verschleiernden Vokabeln. Wie sähe Verhältnismäßigkeit aus? Auge um Auge? Allein die Mahnung, keine unverhältnismäßigen "Strafaktionen" zu verüben, verkleistert, worin das "Strafen" besteht. Es sagt nichts anderes, als dass es verhältnismäßiges Töten gebe. Aus sicherem Abstand lässt sich neben Ist-Sätzen der reine moralische Sollens-Satz sagen: "Du sollst nicht!" Danach kann es kein verhältnismäßiges Töten geben. Punkt. Von Verhältnismäßigkeit beim Töten zu sprechen, ist nichts anderes als eine Kapitulation vor den Gegebenheiten. Diese Gegebenheiten kommen aber nicht vom Himmel, sondern sind menschengemacht und damit veränderbar. Aber wie? Mit der reinen Lehre, mit pazifistischen Slogans und moralischen Sollens-Sätzen bewegt man nichts; sie sind hilflos, "unrealistisch", sie berühren nicht das, was jetzt wirklich vorgeht. Gleichzeitig gibt es hier am Tisch die Wut gegenüber dem "realistischen" Reden, das so oft ummäntelt, beschönigt und anästhesiert. Wer hat das Monopol, einen "gerechten Krieg" zu definieren? Was soll man sich unter "robusten" Truppen und Mandaten vorstellen? Was alles lässt sich unter dem Schlagwort "Vorwärtsverteidigung" subsumieren?

Wie könnte man Israelis, Libanesen und Palästinensern wirklich helfen? Vielleicht indem man sie daran erinnert: Bewegungen und Organisationen sind nie monolithisch und ihre Ziele ändern sich. Auch Israel wäre entgegenzuhalten, dass der seit Jahren gebetsmühlenartig wiederholte Satz, man habe auf der gegnerischen Seite keine Ansprechpartner, Humbug ist. Kleines soziologisches Einmaleins: Es gab und gibt in der PLO, der Fatah, der Hamas, selbst in der Hisbollah bei allem, was auch innerhalb dieser Strukturen undemokratisch ist, immer Hardliner und die - intern gefährdeten - gemäßigten Kräfte, die Unterstützung brauchen. Umgekehrt gilt: Es gibt auch nicht das "eine" Israel, das in der Absicht, nach der Shoa nie wieder Opfer zu sein, zu allem bereit ist. Anstelle der "Droge Tat" (Alexander Kluge), an der die Interessenten des Kriegs sich berauschen, ginge es ums Innehalten, um den sofortigen Waffenstillstand. Ein weiterer hilfloser Satz.

Die Hisbollah dürfte wissen, dass sie Israel nicht von der Landkarte wischen kann. Umgekehrt weiß auch Ehud Olmert, dass der jetzige Krieg zwischen einem Staat einerseits und transnational operierenden Gruppen andererseits nicht im klassischen Sinn militärisch gewonnen werden kann. Gleich zu Beginn des Kriegs, lange bevor Olmert sich deutsche Soldaten "zur Sicherheit des israelischen Volkes" wünschte, wurde unter hiesigen Politikern und Publizisten debattiert, ob man Truppen entsenden solle. Für den Einsatz wurde unter anderem mit dem Argument geworben, er beweise die Normalität der Beziehungen zwischen beiden Staaten. (Warum kann man hierzulande nicht aushalten, dass das Verhältnis nur in Anführungszeichen "normal" sein kann? Allermindestens so lange, wie es Überlebende der Shoa gibt, denen das "raus raus", mit dem die Nazis sie aus den Güterwaggons trieb, denen das "links - rechts", mit dem sie selektiert wurden, bis heute nachklingt?) Was genau würden deutsche Soldaten in Nahost tun? Den vielfach geäußerten Satz, Juden sollten nicht mit deutschen Uniformen konfrontiert werden, nennt die FAZ einen "selbstverliebten pazifistischen Imperialismus". Wo waren die Pazifisten je Imperialisten? Was gibt es dem Blatt, das Wort Pazifismus mit Schmähungen einzukleiden? Dann schränkt es wieder ein, die Bundeswehr könne nicht in einen Einsatz gesandt werden, in dem sie unter Umständen militärische Gewalt gegen Israelis anzuwenden hätte. Einstweilen sieht es nicht danach aus, als würden Truppen, aus welchem Land auch immer, in den nächsten Tagen losziehen; schon die bescheidensten, armseligsten Resolutionsentwürfe lassen sich nicht durchsetzen. Hisbollah-Chef Nasrallah hat angekündigt, wenn Israel das Zentrum Beiruts bombardieren würde, werde er Tel Aviv angreifen.

Email des palästinensischen Arztes und Schriftstellers Majed Nassar vom 27.7. "... Gestern wurden 24 Menschen in Gaza durch israelische Bomben getötet und an die hundert verletzt. An sich braucht man in Gaza nicht zu zielen, egal wohin die Bombe fällt, trifft sie Menschen. Ich möchte nicht die Zahl vom vorigen Tag und vom vorigen nennen. Niemand kümmert sich. Ich glaube, dass die Menschen in Europa vergessen haben, wie es aussieht, wenn ein ganzes Gebäude plötzlich sich in Krümel und Staub auflöst ...".

Bittet man dieser Tage einen Arzt aus der Westbank, er möge seine Patienten zurückstellen und öfter schreiben, damit in Deutschland die Kriegsgräuel genauer bekannt werden? Das Gefühl, niemand, auch und besonders die UNO, kümmere sich um die eigene Seite, wird es in Israel und Libanon ebenso geben - und dieser Satz relativiert palästinensischen Schmerz. Leid lässt sich medial nur begrenzt vermitteln. Leid wahrzunehmen von hier aus, und gleichzeitig sich zu wünschen, jede Seite des Konflikts wäre in der Lage, den Schmerz der anderen Seite wahrzunehmen, die Existenz dieses Schmerzes anzuerkennen? Fromme Wünsche.

Wenn der Gazastreifen 365 Quadratkilometer umfasst und also etwa so groß ist wie Bremen. Wenn etwa 1,5 Millionen Menschen dort leben und die Hälfte von ihnen unter fünfzehn Jahre alt ist. Wenn Häuser Gerippe werden. Wenn die Welt sich gewöhnt hat an weinende Israelis und palästinensische Trauerzüge. Wenn im Libanon die Flüchtlingstrecks entlang zerstörter Straßen ziehen. Wenn ein Kinderspielzeug in Palästina Selbstmordattentäter-Puppen sind. Wenn ein Kindersport in Israel das Beschriften von Raketen ist: "with love for libanon". Wenn nach der Bombardierung eines Elektrizitätswerks an der libanesischen Küste die größte Ölpest seit Jahrzehnten herrscht. Wenn Streubomben und Raketen fallen. "Bedauerlich ist aber, dass die politische Intelligenz des Menschen hundertmal weniger entwickelt ist als seine wissenschaftliche Intelligenz." (Marguerite Duras)

Wenn, wenn - und dann? Brauchen hiesige Leser noch mehr analytische, ergänzende, erwägende Berichte, noch mehr Nachrichten? Wonach sich richten? Nach den Tatsachen, nach dem von da und dort Gegebenen? Oder will man sich nach den Träumen richten? Es hatte gelegentlich den Anschein, dass die Bevölkerungen weltweit ihnen folgen wollten; als sie seinerzeit überall auf die Straßen gingen, um den Krieg gegen den Irak zu verhindern - Demonstrationen von England bis Australien. Sie spielten keine Rolle. Also kehrt man vom so einfach denunzierbaren, weil unrealistischen Friedenstraum zur Realität zurück. Findet sich genügsam damit ab, dass es immer so war und ist und bleiben wird: Mit Vergeltung und Erstschlag, mit Giftgas erst, dann Gasmasken, mit Waffensystemen erst und dann für Leichen Säcke, mit Geiseln und Sanktionen, mit dem Feilschen um ein Wort in einer Resolution. "glückwunsch / wir alle wünschen jedem alles gute: / daß der gezielte schlag ihn just verfehle / daß er, getroffen zwar, sichtbar nicht blute / daß, blutend wohl, er keinesfalls verblute / daß, falls verblutend, er nicht schmerz empfände / daß er, von schmerz zerfetzt, zurück zur stelle finde / wo er den ersten falschen schritt noch nicht gesetzt / - wir jeder wünschen allen alles gute." (E. Jandl)

Das sind Gedanken, die mir dieser Tage durch den Kopf gehen. Warum soll man aber, und von hier aus, Erbitterung, Ohnmacht, Zynismus und Resignation schriftlich verbreiten? Was lässt sich sagen? Selbst die Kommunikation mit Freunden in der Westbank und in Israel ist auf Floskeln eingeschränkt. Wie oft schreibt man von hier aus einen Abschiedsgruß, "sei wohlbehalten"? Und wenn die so sprachmächtigen- und lustigen Freunde ihrerseits anrufen oder Briefe schreiben: Ihre Rede geht, als hielten sie die Hände vor den Mund. Die Anstrengung, das Geschehen analytisch, kritisch und selbstkritisch zu durchdringen, ist spürbar. Sie leisten diese Arbeit, während sie in Angst leben. Sachlichkeit und Vernunft als Schutzwall gegenüber von Gefühlen, die man ahnt in der Erinnerung an Stimmen, Gesten und Gesichter, in der Hand vor dem Mund vor dem Schrei.

Sabine Peters, geboren 1961 in Neuwied, lebt seit 1988 als freie Schriftstellerin in Hamburg. Zuletzt erschien von ihr im Göttinger Wallstein-Verlag der Israel-Reisebericht Singsand. Zwischen Beer Sheba und Bethlehem.

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