Ein Land mit mehr als einer Wahrheit

Amerikanisierung Tom Segevs postzionistische Streitschrift "Elvis in Jerusalem"

Israel wäre ein "normales" Land, wenn es den ersten jüdischen Dieb hervorbrächte - das war lange Zeit ein Gemeinplatz zahlreicher jüdischer Visionäre. Tatsächlich ist seit der Gründung des Landes vieles erreicht worden, angefangen bei dem ganz einfachen Phänomen, dass viele Angehörige der dritten oder vierten Generation inzwischen in der Nähe der eigenen Großeltern aufwachsen können.

Elvis in Jerusalem heißt das neue Buch von Tom Segev, der mehrere Arbeiten zur Lage Israels veröffentlichte und der als Kolumnist für die Tageszeitung Ha´aretz schreibt. Der Band ist eine postzionistische Streitschrift, vor allem für historisch und politisch interessierte Laien geschrieben; es enthält eine Fülle konkreter Beobachtungen und Anekdoten aus dem Alltag, die die abstrakten Probleme anschaulich machen.

Segev geht diversen Strömungen nach, die die israelische Gesellschaft bestimmt haben und die sich durchaus auch jetzt noch nebeneinander finden lassen. Der Zionismus habe, quasi in Konkurrenz mit der Religion, eine säkulare jüdische Identität propagiert; man könne ihn aus seinen europäischen Wurzeln heraus verstehen: Die Vorstellung eines starken, produktiven, wehrhaften "neuen Juden", eines "neuen Hebräers" (eines "neuen Menschen", S.P.) korrespondierte im weitesten Sinne mit einem Menschenbild, das so oder so auch in der Sowjetunion oder im Deutschland der Weimarer Republik formuliert wurde.

Segev erklärt, vor der Staatsgründung habe die zionistische Bewegung den verfolgten europäischen Juden nicht wirksam helfen können. Die Zionisten mit ihrem Selbstbild als Europäer (Vorhut der Kultur gegen das Barbarentum) grenzten sich dann nicht nur gegen die Araber ab, sondern auch gegen die Juden aus den arabischen Ländern, - und unter anderem deshalb konnte der Zionismus bald nicht mehr als die eine Lösungsstrategie gelten, sondern wurde zu einem Teil der Probleme, die die Gesellschaft prägten.

Segev selbst gehört zu den Postzionisten, und das heißt auf der einen Seite zunächst einmal: Er ist kein Antizionist, sondern sieht die historische Notwendigkeit des Zionismus, sprich, des Aufbaus des Staats Israel, spätestens aus der Erfahrung der Shoa. Auf der anderen Seite kritisieren Postzionisten diverse Bausteine des Zionismus; so werden identitätstragende, nationale Mythen wie der vom "Land ohne Volk für ein Volk ohne Land" historisch analysiert und verabschiedet.

Tom Segev beschreibt den Postzionismus einerseits als eine intellektuelle Haltung, als ein Bewusstsein, andererseits aber auch als ein Sein, als eine Erscheinung im israelischen Alltag. McDonald´s und Hightech-Betriebe, Love Parade, Hilton Hotels, Videocentren, auch die Verwendung von Anglizismen im Sprachgebrauch verweisen auf einen Wandel

der Identität, den Segev als "Amerikanisierung" bezeichnet: Es sei eine Modernisierung, die den "Bolschewismus" der frühen Jahre abgelöst habe. So träten an die Stelle von Werten wie Selbstaufopferung für das Land jetzt Hedonismus, Individualisierung, Pragmatismus, Pluralismus, Toleranz und/ oder Indifferenz.

Segev sieht durchaus die Schwierigkeiten bei dieser Amerikanisierung, etwa die Verbreiterung der Kluft zwischen Arm und Reich, aber insgesamt beurteilt er die Entwicklung als positiv. Das Stichwort "Amerikanisierung" löst auch hierzulande häufig äußerst unproduktive Debatten aus, deshalb soll hier schlicht noch einmal wiederholt werden, dass Segev damit auch solche Werte verbindet, die der Aufklärung und der Emanzipation verpflichtet sind. Wenn man davon ausgeht, dass es unter diversen israelischen Bevölkerungsgruppen, etwa den Siedlern oder bestimmten orthodoxen Kreisen, keine Akzeptanz für das gibt, was jenseits des eigenen Weltbildes liegt, lässt sich Segevs bewusst provokative These schon nachvollziehen. Im Übrigen zeigt das Buch, dass es in Israel von Anfang an eben nicht nur eine Stimme und eine Strömung gab, angefangen bei der Frage, wer überhaupt Jude ist.

Segev beschreibt, wie den Postzionisten immer wieder Verrat am Land oder die Aufweichung der nationalen Identität oder - was ihre selbstkritische Geschichtsschreibung anlangt - gar ein "Todeswunsch" vorgeworfen wird. Er versucht, sich in solche Gegenpositionen hineinzuversetzen und nimmt wahr, wie groß die Enttäuschung und Empörung vieler seiner alten Landsleute ist: Während der Zeit des Arbeiterzionismus seien die nationalen Werte geschmiedet worden. Ohne die oft beschworene Selbstaufopferung und Identität als Kollektiv hätte der jüdische Staat überhaupt nicht aufgebaut werden können - und jetzt erlebte die frühere Elite, dass ihre Werte verfielen, dass ihr Programm nichts als brutale Kolonisierung gewesen sei, und so fort.

So notwendig es für einen offenen Dialog ist, dass Segev sich in diese Haltungen, die ja oft biographisch begründet sind, einfühlt, so sehr kann man es bedauern, dass - zumindest im jetzt erschienenen Buch - wenig Empathie für die sephardischen Juden, für arabische Israelis und für Palästinenser spürbar wird. So heißt es einmal etwas holzschnittartig, der palästinensische Terror bombe Israel zurück in den Schoß des Zionismus. Andere israelische Intellektuelle formulieren dies Phänomen eines wieder aufkommenden modifizierten Zionismus ebenfalls, betonen aber auch die eigenen Anteile daran.

Noch einmal zur "Amerikanisierung": Segev weist vor allem auf die Ähnlichkeiten beider Staaten hin. Die USA und Israel seien Einwanderungsländer, in denen allerdings bereits Bevölkerungen lebten. Beide seien universalen Werten verpflichtet, wobei eingestandenermaßen Ideal und Umsetzung wie überall auseinander klafften. Beide Länder wollten zum Schmelztiegel werden und hätten erfahren, dass es statt zu Assimilation und Integration zu Separation und Pluralismus gekommen sei.

Tom Segev gibt dem Postzionismus angesichts der aktuellen Lage kurzfristig wenig Chancen. Aber als Pragmatiker weiß er: Israelis und Palästinenser können sich im Gegensatz zu den Briten nicht auf eine Insel zurückziehen. Sie müssen lernen, nebeneinander und miteinander zu leben.

Elvis in Jerusalem ist ein Schnelldurchlauf durch die israelische Geschichte und Gegenwart, und man wünscht sich manchmal, der Autor hätte sich mehr Zeit genommen, er würde nicht oft noch in Nebensätzen Phänomene beleuchten und Argumente unterbringen - aber wahrscheinlich spiegelt diese Verfahrensweise ganz gut die Vielschichtigkeit der Gesellschaft wider, in der extrem viele widersprüchliche Tendenzen nebeneinander zu finden sind - Israel hat mehr als eine Wahrheit, heißt es einmal.

Segevs Buch wird sicherlich überall dort, wo es gelesen wird, Widersprüche aus der einen oder anderen Richtung auslösen; das heißt, das Buch ist geeignet, das Nachdenken und die Diskussion über die Perspektiven Israels überhaupt in Gang zu halten und so zumindest theoretisch etwas offen zu halten, was praktisch immer wieder durch Terror und Antiterror in Erstarrung gerät.

Tom Segev: Elvis in Jerusalem. Die moderne israelische Gesellschaft. Aus dem Englischen von A.C. Naujoks. Siedler-Verlag, Berlin 2003, 192 S., 18 EUR

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