Eine kaputte Welt

Koma Short-Stories des israelischen Autors Etgar Keret und des libanesischen Autors Samir El-Youssef in einem Band

Alon ist Rekrut bei der israelischen Armee. Der Feldwebel lehrt ihn und die übrigen Soldaten auf demütigende Weise, wie man sein Gepäck in Nylon verschweißt, um bei einem Einsatz im Libanon vor Schlamm und vor "der Scheiße der Arabs" geschützt zu sein. Alon verschweißt sich selbst mit einer hermetischen Nylonschicht. Seiner Freundin fällt seine Unnahbarkeit auf. Am Ende der Rekrutenzeit nimmt Alon ein Rasiermesser und setzt es an den Hals, jetzt, flüstert er, kann er das Nylon auftrennen. Auf knapp fünf Seiten schildert der Israeli Etgar Keret die brutale Atmosphäre beim Militär, und das surreale Bild des Verschweißten macht deutlich, wie die Soldaten unberührbar, empfindlungslos, anästhesiert werden. Wie liest solch eine Short-Story ein Palästinenser, der wenig Anlass hat, Mitgefühl für die Soldaten der Gegenseite zu empfinden?

Etgar Keret, Jahrgang 67, der auch hierzulande viel gelesen wird, ist einer der wenigen Autoren, deren Bücher auch auf Arabisch, in Palästina erscheinen. Der Luchterhand-Verlag hat jetzt seinerseits einen Versuch der literarischen Grenzüberschreitung unternommen; er hat in dem Band Alles Gaza verschiedene veröffentlichte und neue Short-Stories von Keret zusammen mit einer längeren Erzählung des Palästinensers Samir El-Youssef vorgelegt. Die miteinander befreundeten Autoren - El-Youssef wurde 1965 im Libanon geboren und lebt seit 1990 in London - haben einen vergleichbaren Blickwinkel auf die Gegenwart in Nahost: In ihren Texten überwiegt das resignierte Lebensgefühl. Die meist jüngeren Protagonisten versuchen, sich der Politik zu entziehen, haben aber natürlich keine Chance, denn Selbstmordattentate und Vergeltungsaktionen bestimmen den Alltag. Beide, Keret und El-Youssef versuchen, die Hoffnungslosigkeit der Lage mit Sarkasmus, mit schwarzem Humor und aggressivem Witz zu bekämpfen.

In El-Youssefs Erzählung der Tag, an dem die Bestie Durst bekam will der ständig bedröhnte Ich-Erzähler Bassem den Libanon verlassen, will nach Deutschland, will irgendwohin, wo es vielleicht eine Perspektive gäbe. Die Alternativen, die sich ihm an seinem Ort anbieten: "Revolutionärer Zuhälter", "Arschloch von Freiheitskämpfer". Oder ein stiller Selbstmord; wobei er vielleicht vorher noch ein paar verhasste Nachbarn mitnehmen könnte. Bassems Gegend ist nach allen Seiten verstellt. Er spottet über das vollmundige Reden von der gerechten palästinensischen Sache, über das Reden vom Märtyrerblut, das im Kampf gegen den zionistischen Feind geflossen sei, zumal er sieht, wie ein palästinensischer Fraktionsführer dem nächsten seine teils mörderischen Lektionen erteilt.

El-Yassef kämpft in seinem Text gegen Denkschablonen und Selbstübertreibungen auf der palästinensischen Seite - und nachdem er sie eine nach der anderen auseinandergenommen hat, bleibt eigentlich nichts übrig. Bassem stolpert durch eine kaputte Welt, voll Hass und Schuldgefühl; seine innere wie äußere Aussichtslosigkeit. wird beklemmend deutlich in dem gleich zweimal geäußerten Gedanken: Eigentlich könne er auch bleiben, heiraten, Kinder zeugen und abwarten, dass Israel in den Libanon einmarschiere und die Flüchtlingslager platt mache. Dann sei das Leben endlich abgehakt. Der Sarkasmus, ja Zynismus des Textes wäre total, würde El-Yassef seinem Helden nicht Funken von Sehnsucht, von Glücksbegehren mitgeben, die dieser Erzählung in allem Schmerz ihre Lebendigkeit geben.

Die Short-Stories Etgar Kerets wirken verglichen mit El-Youssef weniger düster. Das liegt allerdings nicht an ihrem Inhalt, der einem auch hier den Atem stocken lassen kann angesichts der ganz normalen Gewalt im israelischen Alltag. Kerets Textminiaturen sind gespannt, konzentriert, sie verdichten Widersprüche, schlagen unerwartete Haken. Da ist der Versicherungsvertreter Oschri, der nach einem Unfall einige Zeit im Koma lag und seither seinen Arm nicht bewegen kann. Er ist sehr erfolgreich beim Verkauf der Policen, weil er immer auf das eigene Schicksal hinweisen kann. Die Besorgnis seiner Familie, ob es ihm inzwischen wieder gut gehe, ist ihm lästig. Denn er ist süchtig nach der Koma-Welt geworden. Als wieder einmal irgendwo ein Autounfall passiert und die kleine Tochter fragt, was mit dem Verletzten auf der Bahre passiere, steigert sich Oschri zum Entsetzen seiner Frau in eine Schilderung, wie schön das Koma sei: Eine Welt von Farben und Stille, in der es keine Angst und keine Schmerzen gibt.

Die Kategorie der Generationszugehörigkeit wird häufig herangezogen, um Autoren zu verstehen; und so heißt es also auch, wenn es um Israelis und Palästinenser geht: Die "jüngere" Generation, also die von Keret und El Youssef, sei postideologisch, sie habe kein großes politisches Programm. Abgesehen davon, dass sich auch die älteren Jahrgänge größtenteils von ihren politischen Hoffnungen ins Private verabschiedet haben, möchte man für die Jüngeren, hier also für El-Youssef und Keret sagen: Mag sein, sie haben kein Programm. Sie haben aber Haltungen, sie haben auch ein Geschichtsbewußtsein. Und selbst wenn sie nicht bereit sind, Antworten zu geben - die Fragen, die sie stellen, stören auf.

Etgar Keret/ Samir El-Youssef: Alles Gaza. Geteilte Geschichten. Übersetzt von Barbara Linner und Verena Kilching, Luchterhand, München 2006, 144 S, 8,30 EUR


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