Europa mit menschlichem Antlitz

Gesprächsangebote Geert Maks Mammutprojekt einer Reise durch 100 Jahre

Ein Reisebericht, der sich über den gesamten europäischen Kontinent erstreckt, und der zusätzlich noch eine Zeitreise durch das zwanzigste Jahrhundert sein will: Der niederländische Publizist Geert Mak hat sich ein Mammut-Projekt vorgenommen. Sein Buch ist allerdings, wie die vorausgehenden, leserfreundlich geschrieben: Es verbindet abstrakte Fakten mit den Aussagen ganz unterschiedlicher Zeitgenossen da und dort, und die Schilderungen der Reiseumstände - Hotels, Straßenzustände, Witterung - sind erfreulich plastisch. 1999 reiste Mak ein Jahr lang im Auftrag seiner Zeitung, dem NRC Handelsblad, durch Europa, und auf dieser Grundlage entstand In Europa. Die Landschaften und Städte, die er besucht, stehen fast alle für historische Katastrophen: Verdun, Guernica, Auschwitz, Prag, Belfast, Tschernobyl oder Sarajewo.

Der Anfang des Jahrhunderts: Aus Bauern werden Städter. Industrialisierung, das Elend in den Mietskasernen, Streiks und ihre Niederschlagung. Aber die Modernisierung schien auch Hoffnungen zu verheißen. Auf der Pariser Weltausstellung konnte man Röntgenapparate bewundern, ein völlig neues Phono-Cinematheater mit zitternden Bildern und eine Dampflokomotive, die mit 120 Stundenkilometern dahinsauste. Das zwanzigste Jahrhundert als ein großer Sprung nach vorn? Ja, wenn man sich die rasante technische Entwicklung klarmacht, wenn man die Architektur aus Eisen und Glas ansieht, wenn man an Namen wie Sigmund Freud, Ludwig Wittgenstein, George Grosz oder Gustav Mahler denkt. Ein großer Sprung nach vorn? Keineswegs.

Die Ideen der Aufklärung sind durch zwei Weltkriege, durch die Shoa in immer noch unfassbarem Ausmaß beschädigt worden. Geert Mak sieht in den sich um 1900 entwickelnden Hauptstädten auch die Gegenbewegung zur Modernisierungs-Euphorie, eine große Modernisierungsangst, die sich patriotistisch und nationalistisch äußerte, vor allem in der militarisierten deutschen Gesellschaft: Krieg als Ventil für soziale Spannungen und Angst. Krieg als romantischer Heldenkampf, als Feld der Ehre - und in dem propagandistischen Getöse des Jahres 1914 zerfielen Pläne für einen internationalen Generalstreik. So zogen die Europäer in das, was später Erster Weltkrieg genannt wurde. Zunächst noch teilweise in bunten Uniformen und lanzenbewehrt, ritten sie in das Knattern von Maschinengewehren auf der gegnerischen Seite.

Mak zeigt das heutige Verdun als makaberes Disneyland für "WK-1-Touristen"; für die Enkel und Urenkel der dort Gefallenen ist der Ort nicht mehr mit starken Emotionen verbunden. Aber was haben die aus dem Krieg Zurückgekehrten und ihre Nachkommen aus der Erfahrung gemacht? Die entstehende Sowjetunion wurde im übrigen Europa als Bedrohung empfunden, man fürchtete, der sozialistische Funken könne überspringen. Hitler wurde von vielen in vielen Ländern als treibende Kraft gegen den Bolschewsimus verstanden. Mak spielt die Hauptverantwortung der Deutschen auch für den zweiten Weltkrieg nicht herunter, er benennt aber zusätzlich das Versagen anderer Staaten. Die Voraussetzungen und Besonderheiten der Jahre 1900 bis 1945 nehmen knapp zwei Drittel seines Buchs ein, und gelegentlich fragt man sich, ob das erzählerische Abschreiten von Orten wie Berlin oder Vichy nicht zwangsläufig an der Oberfläche bleiben muss.

Wer sich leidlich in europäischer Geschichte auskennt, für den bleibt es oft beim bloßen Wiedererkennungswert. Leider verliert Mak auch einige seiner Fäden - so beschreibt er die technischen und kulturellen Entwicklungen in den Jahren 1945 bis 2000 nahezu nicht. Ein weiteres Problem seines Buchs ist, zumindest teilweise, die Argumentation. Oft wird eher moralisiert als analysiert. Mak konstatiert etwa, dass Hitler sich von großen Konzernen finanzieren ließ - natürlich streben Politiker nach Macht. Helle Empörung dagegen über den nach Macht strebenden Politiker Lenin: Die Oktoberrevolution von 1918 wurde auch vom deutschen Außenministerium mitbezahlt; die Deutschen wollten Frieden an der Ostfront, Lenin brauchte ihn, um die Revolution voranzutreiben.

Bei aller Kenntnis der europäischen Katastrophen, bei aller Kritik an dem früheren wie gegenwärtigen Europa setzt Geert Mak große Hoffnungen in das Projekt der Einigung, so es denn mit einer fortschreitenden Demokratisierung verbunden wäre. Sein Buch plädiert dafür, einander zwischen Dublin und Athen, zwischen Lissabon und Moskau fortgesetzt die eigenen Geschichten zu erzählen, um Verständnis füreinander zu gewinnen und so vielleicht auch die eigenen nationalen Mythen zu relativieren. Gleichzeitig ist sein Buch selbst eine lose Aneinanderreihung von Erzählungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Es ist schwierig, den Autor auf eine klare Position festzulegen. Sein an sich reizvolles "Einerseits - Andererseits", sein Verfahren, widersprüchliche Zeitzeugenaussagen selten zu kommentieren, gibt sich als gedankenvolle Ausgewogenheit, vielleicht gar als Neutralität. Kann es die in irgendeiner Form von Geschichtsschreibung geben?

Man muss vielleicht sagen, diese Reise durch das 20. Jahrhundert will nicht polarisieren. So problematisiert Mak im Unterschied zu anderen seiner Bücher etwa die Verbindung Europas zu seinen Kolonialländern nahezu nicht. Er greift nicht an wie der Soziologe Jean Ziegler; er unterwandert die gängige Geschichtsschreibung auch nicht, wie es ein Alexander Kluge mit seinen planvoll chaotischen, subversiven Texten unternimmt. Sondern er will, ähnlich wie Karl Schlögel, Gesprächsangebote machen, will das zerrissene Europa zusammendenken. Seine Erleichterung über das Scheitern des sozialistischen Projekts ist deutlich spürbar, und es scheint, als setze er nun auf einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. Daher seine Appelle, die leider oft wirken wie ein hilfloses Hinterhereilen: Europa dürfe nicht zur Festung werden, solle nicht zerfallen in einen reichen Euro-Block und arme Satellitenstaaten. Die Kluft zwischen Bürgern und ihren Repräsentanten dürfe nicht weiter wachsen. Es brauche mehr Interesse am europäischen Parlament, an gesamteuropäischen Medien und Parteien.

Daneben seine pragmatische Anerkennung des bisher Erreichten: Abgesehen vom Krieg in Jugoslawien, der in seinem Buch natürlich geschildert wird, habe es seit 60 Jahren keine innereuropäischen Kriege mehr gegeben. Europa sei der größte Wirtschaftsraum der Welt, die Lebensqualität sei im internationalen Vergleich gesehen gut; einmalig sei die Einrichtung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Und als Realist betont er: Man müsse in Generationen denken, wenn es um ein so weitreichendes Projekt wie die europäische Einigung gehe. Zum Vergleich: So etwas wie nationale Identität sei nur allmählich entstanden, und dies Entstehen hatte, etwa in Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, weniger mit schönen Reden zu tun als vielmehr mit dem Bau von Straßen, Eisenbahnlinien, Schulen und mit der Einführung der Wehrpflicht. Daran hätten sich diejenigen zu orientieren, die über eine "europäische Identität" nachdenken.

Mythen sind Versuche, "Welt" mithilfe von Erzählungen, von Geschichten zu deuten. Wer sich von nationalen Mythen zugunsten eines neuen europäischen Mythos trennen will, müsste, so das Paradox, Geert Mak zufolge zunächst anerkennen, dass es so etwas wie eine kulturelle europäische Einheit um 1914 noch eher gab als in den neunziger Jahren.

Bei allem, was einem während der Lektüre an zeitgeschichtlichem Allgemeinwissen zu viel und an Spezialwissen zu wenig sein mag - es sind die immer wieder auftauchenden kleinen, unscheinbaren Details, die einen bestricken können. Finnen und Türken - alles Europäer? Es gibt aber doch wohl gewisse Mentalitätsunterschiede. Im kargen Finnland heißt das Wort für "bunt" sinngemäß "augenschmerzerregend"; und eine Bekleidungsfirma wirbt für ihre Anzüge mit der Information: In diesen Kleidern fallen Sie nicht auf. Auffallend dagegen und geniesserisch-erzählerisch die Namen von Straßen im heutigen Istanbul: "Straße des Ibrahim aus der schwarzen Hölle." "Allee des struppigen Bartes". "Weg des Huhns, das nicht fliegen kann". Wer baumlose deutsche Schlafstädte mit Linden- und Eichenstraßen überzieht, könnte ins Nachdenken kommen.

Fazit: In Europa ist lesenswert nicht unbedingt wegen des zugegeben umfassenden Wissens seines Autors, sondern vielmehr wegen seiner Neugier und Warmherzigkeit.

Geert Mak: In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke und Gregor Seferens. Siedler, Berlin 2005, 944 S., 49,90 EUR


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