Die katholische Kirche hat ihren Anhängern zwar gern mit Höllenpein und ewiger Verdamnis gedroht, aber sie ließ den Missetätern immer auch ein paar Schlupflöcher. „Lässliche Sünden“ führen nicht geradewegs ins Feuer. Vergehen, die mehr oder weniger unbewusst, oder die unter innerem oder äußeren Druck begangen werden, wiegen der christlichen Lehre zufolge nicht allzu schwer. Aber wie definiert man inneren Zwang, wo fängt das bewusst getane Unrecht an, und wer entscheidet, was geringfügig ist?
Eva Menasse, die 1970 in Wien geboren wurde, hat sich in ihrem neuen Buch die sieben Todsünden vorgenommen, sie spielt dem Leser lässliche, also verzeihbare Varianten vor.
„Gefräßigkeit“: Die Schülerin Martine besucht ihre Lehrerin Fiona in Italien; nach dem Campingurlaub mit dem Freund ist sie abgebrannt, schmutzig, hungrig. Und etwas verlegen; denn sie verehrt die Lehrerin, liebt sie vielleicht. Dabei kann Fiona die Schülerin mit einem Satz zerfetzen: Du hast Cellulitis. Oder: Du riechst wie eine Tramperin. Als Martine erfährt, dass Fiona wegen einer nur angedeuteten „Frauengeschichte“ oft unleidlich ist, erwachen ihre mütterlichen Instinkte. Sie versucht, die Lehrerin zu verwöhnen, unterhält sie, und sie kauft von Fionas Geld ein. Nach der „Frauengeschichte“ fragt sie aber nicht weiter. Fiona gerät in einen ungeheure Wut, sie wirft dem Mädchen Gedanken- und Rücksichtslosigkeit vor. Gefräßigkeit? Wer frisst hier wen? Die Sünde der Völlerei meint in weiterem Sinne auch Unmäßigkeit, und maßlos sind beide Figuren, maßlos selbstbezogen.
„Zorn“: Ilka, ihr Mann und die drei kleinen Kinder entdecken, dass in ihrem Ferienhäuschen eingebrochen wurde. Es fehlen zwar nur ein paar Gartenmöbel, aber die harmonische Stimmung ist hin, und als der Sohn die Schwester in einem Streit schlägt, bis dass Mädchen blutet und im Krankenhaus genäht werden muss, verliert Ilka den Rest ihrer Selbstbeherrschung. Ihr Zorn fühlt sich wollüstig an, wie das Kratzen an einem Mückenstich.
Habgier und Wollust
„Wollust“: Rument möchte endlich wieder mal mit seiner Frau Joana vögeln, aber die hat Hautprobleme, und er darf sie allenfalls berühren, um sie einzucremen. Eine reichlich verdrehte „Genusssucht“, mit der sich beide zufrieden geben, aus Angst vor der komplizierten Sexualität, aus Faulheit.
Und so geht es weiter mit Trägheit, Hochmut, Neid und Habgier. Die Geschichten kommen in verhaltenem Ton daher, sie sind nicht auf eine Pointe hingeschrieben, sondern ziehen weite Kreise ums jeweilige Thema, verlieren sich gelegentlich auch ganz gern in Entlegenem. Schließlich gibt es ja auch nicht „die“ Sünde in Reinkultur; die sieben Sünden überlappen sich, sie gehen ineinander über. Der Neid kann zur Habgier werden, Wollust und Gefräßigkeit lassen sich nicht säuberlich unterscheiden – und so kann man auch Missetäter und Opfer nicht immer klar voneinander trennen. Alle Figuren sind „Sünder“, nur äußert sich die jeweilige Sünde auf unterschiedliche Weise.
Die Protagonisten werden von ihren eigenen Gefühlen oft überwältigt, sie verstehen sich selbst nicht oder machen sich etwas vor. Das wird nicht direkt ausgesprochen, sondern diskret umrissen. Die Erzählungen wirken, als läge ein Zwielicht über ihnen; sie sind absichtsvoll unscharf gehalten, verklingen manchmal ohne eindeutiges Ende. Dabei sind allerdings die Details scharf beleuchtet, und man staunt, wie egomanisch und exzentrisch, wie skurril die ganz normalen Zeitgenossen wahrnehmen, denken und handeln. Nicht nur die Sünden überschneiden sich in diesem Buch, auch die einzelnen Figuren tauchen hier und da wieder auf – ein lockerer Reigen, der Zusammenhänge nahelegt, ohne sie den Lesern aufzuzwingen.
Menasses erster Roman, Vienna (Freitag vom 23. September 2005), die Geschichte einer jüdischen Wiener Familie, fand ein überwiegend positives Echo: Ein charmantes Buch, anekdotenreich und fabulierfreudig, vielleicht allerdings an manchen Stellen etwas harmlos, fixiert auf eine Pointe und auf das Schmunzeln des Lesers. Die zweite literarische Veröffentlichung stellt Schriftsteller vor andere Schwierigkeiten als das erste Buch: Vielen ersten Büchern merkt man deutlich an, dass sie geschrieben werden mussten. Familiengeschichten, die Suche nach Identität: Es sind oft Lebensfragen, die nach einer Form suchen.
Pfad der Tugend
Menasses zweites Buch ist nicht die thematische Fortsetzung oder Wiederholung des erfolgreichen ersten Romans. Es ist, als hätte die Autorin einzelne Kritikpunkte an Vienna allzu direkt auf die Arbeit am zweiten Buch übertragen: Keine Witzeleien mehr, kein Geplauder, dafür eine beinahe übergroße Distanz zu den Figuren. Aber macht das die neue Lektüre unangreifbar? Als Leser ist man hin- und hergerissen: Lässliche Todsünden, das sind sehr reflektierte, beherrschte, kunstvoll komponierte Geschichten. Der kühle Tonfall verwundert bei einem Thema, das man traditionell eher mit Hitze in Verbindung bringt. Sünden brennen im Herzen, heißt es in einem Kirchenlied, sie bringen Unglück in die Welt. Der Habsüchtige etwa schädigt nicht nur einen anderen, sondern er wird ja auch selbst nicht froh mit all seinem Besitz – zumindest predigen das Märchen, Sagen und Legenden. Die Helden in Eva Menasses Buch fühlen keine Gewissenspein, sie sündigen aber auch nicht gerade lustvoll. Die Figur des leidenschaftlichen Frevlers, die von diversen Kirchenmalern in düster leuchtenden Bildern dargestellt wird, erscheint hier doch oft sehr gepflegt. Einige Texte wirken in aller Klugheit und Kunstfertigkeit etwas steril, als sei hier eine Hausarbeit erledigt worden. Und so wünscht man der Autorin, dass sie beim nächsten Buch die Stricke reißen lässt: Schreiben heißt, vom Pfad der Tugend abzuweichen.
Eva Menasse, Roman, Kiepenheuer&Witsch, Köln 2009, 240 S., 18,95
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