Sista Lee: Eine Assimilationskanakin kotzt den Zeitgeist aus. Raul Zeliks Roman Bastard Carla Lee, 27, Studentin im zwölften Semester, ist in Deutschland geboren und aufgewachsen; ihr Vater ein koreanischer Gewerkschaftsführer, der in Deutschland eine Imbissbude betreibt, die Mutter streng katholische Portugiesin. Carla ist also eine ganz normale deutsche "Kartoffeltussi", die sich erst fremd im Land fühlt, wenn die Deutschen so genannte Fremde jagen. Das stimmt nicht ganz, Carla Lee fühlt sich auch in sich selbst fremd. Sie hat das Gefühl, nicht zu wissen, was sie will, zu fett zu sein, überall zu versagen - Carla Lee hat Depressionen, und sie hat Identitätsprobleme. Liegt es an der portugiesischen Saudade, dieser speziellen Form von Melancholie? Bedrückt sie der koreanische Komplex, immer und überall die beste sein zu müssen? Oder ist es der banale deutsche Weltschmerz einer Schnepfe, die innerlich zerfressen ist von Arbeitsethos, schlechter Laune, Misstrauen?
Aber sind die gesellschaftlichen Verhältnisse vielleicht nicht zum Kotzen? Sich zu konzentrieren, fällt Carla schwer, in ihrem Kopf ist eigentlich nur ein Gedanke: Hunger. Denn wenn Carla etwas hasst, sind es kalorienhaltige Lebensmittel. Carla leidet an Bulimie, auch das noch. Warum sie lebt? Sie weiß es nicht. Also fliegt sie ins smogverseuchte Seoul, um als freiberufliche Journalistin zu arbeiten. Dort beginnt sie, die weitreichenden politischen Dimensionen eines Bauskandals aufzudecken und hofft, ihrem Leben mithilfe einer solchen kritischen, aufklärerischen Arbeit Struktur und Sinn zu geben. Es wäre in ihren Augen sentimentaler Quatsch, sie heimatlos zu nennen. Vielmehr gehören ihresgleichen, diese vaterlandslosen Kanaken überallhin - wobei sie weit davon entfernt ist, das "Multikulti"-Segment zu bedienen. In Briefwechseln und Gesprächen mit dem Freund Cem, einem "Abiturtürken" aus Iserlohn, der Mitglied eines Sprüherkollektivs ist, versucht Carla, ihre Probleme zu klären. Das gelingt, man ahnt es, höchstens ansatzweise - aber eine Bewegung ins Offene scheint es gegen Ende des Romans doch zu geben.
Bastard. Die Geschichte der Journalistin Lee von Raul Zelik ist ein absolut lesens- und diskussionswertes Buch. Der Text kann tatsächlich den Horizont öffnen und erweitern. Das liegt nicht daran, dass einer der Schauplätze das heutige Seoul ist; Raul Zelik arbeitet nicht oder nur ironisch mit der Exotenmasche. Die Hauptfiguren in seinem Buch sind Grenzgänger, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Sie überschreiten die nationalen Grenzen so selbstverständlich, wie es ja auch der gemeine Geschäftsmann und der Globetrotter tun. Grenzgängerisch sein bedeutet in Zeliks Roman aber auch, sich am Rand der Gesetzlichkeit zu bewegen, ob es sich dabei um das Ignorieren von Visa-Verordnungen, um "Zügemalen" oder um tabuisierte politische Aussagen handelt. Carla, Cem und noch ein paar andere sind aliens in knallharten, verkommenen kapitalistischen Gesellschaften, mit deren übrigen Mitgliedern sie nur noch wenige gemeinsame Codes teilen.
Im morgenländischen Seoul, im "Land ohne Dissidenz", ist Carla ein Neinsager, so wie auch in Berlin und Dortmund. Der bei vielen ihrer Zeitgenossen schon beinahe reflexartig gewordene Gestus der Affirmation ist ihr fremd; bündig heißt es etwa von der koreanischen "Demokratie- und Fortschrittsallianz", die nicht mehr für Volksdemokratie eintritt, sondern viel lieber für Wohlstand mit Wachstum: "Sie nennen das Einkehr der Vernunft, ich nenne das zum Kotzen." Raul Zelik schreibt der Heldin eine Weltsicht und ein Lebensgefühl zu, das grimmig, selbstironisch, beißend sarkastisch ist. Carla und Cem kennen noch so etwas wie Haltungen, ihre Zu- und Abneigungen werden schnörkellos deutlich, so etwa: "Früher war die Stadt voll mit Hunderestaurants ... Doch dann kam die Olympiade 1988 und Tussen wie Brigitte Bardot sorgten dafür, dass notleidende Kreaturen aus der Haft befreit wurden. Die Köter, nicht die politischen Gefangenen. Seitdem ist Korea so gut wie hundesuppenfrei."
Raul Zeliks Roman ist aus dem Inneren der Communities der Migranten entstanden. Wobei das Lebensgefühl, das hier beschrieben wird, eins ist, das man eher "den Jüngeren" zuordnet, ohne damit nun gleich wieder eine neue Generation kreieren und festnageln zu wollen. Aber vielleicht lässt sich doch sagen, dass die Auflehnung der heute 14- bis 30-jährigen sich oft anders ausdrückt als die derjenigen, die heute um die vierzig sind: Die Autonomen oder die Alternativen beispielsweise gingen anders mit "Identität" um, als es Leute wie Cem und Carla tun. Es geht hier vor allem darum, "Identität" aufzubrechen, mit ihr zu spielen, als Mensch sozusagen zu flimmern - und so haben Carla und Cem auch keinerlei Scheu, mit Versatzstücken der Popkultur umzugehen und im Selbstverständnis zwischen Realität und Virtualität herum zu irren.
"Sista Lee" jedenfalls kann sich selbst mühelos denken als "Commander Ripley-Lee" auf dem Gefängnisplaneten bei der Tante, dem "Küchen-Alien" mit seinen feindseligen Essenseinladungen, oder als kämpferische Catwoman in Gotham City. Also: Keine sicheren Identitäten, kein Che als Leitbild, kein mit Demos und Polit-AGs vollgestopfter Terminkalender - vielmehr ein oft exzessiver Konsum von Soaps und Talkshows, tagelanges Abhängen, in Carlas Fall immer wieder der rasende Leerlauf von Fressen und Kotzen - und doch sind die Figuren alles andere als indifferent und gehirngewaschen. Wenn sie zynisch sind, durchschauen sie ihren Zynismus und analysieren ihn. Sie sind vom Geist des Widerspruchs erfüllt, in einer kaputten Welt versuchen sie, tough zu sein - Carla und ihre Freunde wirken alle miteinander dünnhäutig, und sie berühren doch durch das, was man ihren "Herzensmumm" nennen wollte.
Dabei können Zeliks Figuren den Leser natürlich auch schwer aufregen in ihrer Lethargie, ihren (selbst)zerstörerischen Ritualen, vielleicht auch in ihrer gelegentlichen Arroganz dem Rest der Welt gegenüber, man könnte sie manchmal schütteln - und das heißt ja wohl, diese Figuren lassen einen nicht kalt. Man kann lang darüber streiten, was Sista Lee und ihre Lieben nun eigentlich sind: Großmäulige Faulpelze, die sich einen rebellischen Gestus aufgeschminkt haben und sich in der ja nicht erst seit gestern oft betonten Alternativlosigkeit - alle Positionen sind bereits besetzt - eingerichtet haben. Oder sind sie mit all ihren Beschädigungen nicht doch immerhin ziemlich unbestechlich, beinahe integer?
Man kann davon ausgehen, dass Zeliks Roman inhaltlich auch noch in zehn, zwanzig Jahren brisant ist. Diverse Sprüche und Anspielungen wird man vielleicht nur noch schwer verstehen. Die Sprache selbst aber hat einen Drive, der sich bestimmt nicht so schnell abnutzt. Verglichen mit einer Unzahl anderer Romane, die irgendeinen Inhalt heruntererzählen, die sprachlich völlig austauschbar sind und die keinerlei eigenes ästhetisches Verfahren zeigen, verglichen damit hat Raul Zelik einen eigenen Ton, der sich auch nicht einfach auf die von Feridun Zaimoglus Büchern bekannte und ihrerseits reiche "Kanak Sprak" reduzieren lässt. Bastard ist ein bewusst komponierter Mischmasch von Tönen, die mehr sind als nur "schrill" oder "schräg". Über viele Passagen hinweg hat man den Eindruck, der Text bebt - er artikuliert eine Leidenschaft, die man sonst nicht so häufig liest. Dieser riskante, furiose Roman ist schließlich auch formal interessant: Raul Zelik arbeitet mit den Prinzipien von Wiederholung und Variation. Wenn er seine Figuren etwa eine schon vorher bekannte Situation als eine Comicvariante durchlaufen lässt, bürstet er damit ganz nebenbei diverse schlicht gestrickte Comics gegen den Strich.
Raul Zelik wurde 1968 in München geboren, er hat diverse Sachbücher, Erzählungen und Romane veröffentlicht, und irgendwo in einer Anthologie zur Literatur von Autoren mit "ausländischer Herkunft" hat er sich nicht etwa als Kanake, sondern als "kanak attrapp" kenntlich gemacht. Daraus lässt sich schließen, und zwar ganz internationalistisch hoffnungsvoll und fromm: Der Geist weht, wo er will.
Raul Zelik: Bastard. Die Geschichte der Journalistin Lee. Verlag Assoziation A, Berlin, Hamburg 2003, 240 S., 15 EUR
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