Im verschwiegenen Königreich

Umstülpen Am 2. Mai wird der französisch-deutsche Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt 80 Jahre alt

Wenn es von einem Autor heißt, er schreibe an einem einzigen Werk, er behandele im Grunde ein Thema, dann klingt das womöglich leicht abwertend. Kann ein einziges Thema seine Berechtigung angesichts der Fülle der Welt haben? Und wenn diverse Texte dieses Schriftstellers autobiografische Züge tragen - wird es dann in seinem Werk nicht unvermeidlich eng? Das "Thema" von Georges-Arthur Goldschmidt ist seit vielen Jahren der Körper und die Sprache, deren Geheimnissen er in immer neuen Ansätzen nachspürt. Der Essayist, Autor und Übersetzer ist nicht nur ein wichtiger Vermittler zwischen Literatur und Psychoanalyse, sondern auch ein Fährmann zwischen dem Französischen und dem Deutschen.

Georges-Arthur Goldschmidt wurde 1928 in Reinbek bei Hamburg als Sohn gutbürgerlicher Eltern geboren, deren Eltern ihrerseits vom Judentum zum Protestantismus konvertierten. Für einen sicheren "Arierausweis" reichte das im Sinne der Nürnberger Gesetze nicht, so dass die Eltern ihre Kinder 1938 ins Ausland schickten, erst nach Florenz, von dort aus nach Frankreich. Dort überlebte der junge Goldschmidt die Judenverfolgung und den Krieg. Zwischen 1957 und 1992 arbeitete er als Deutschlehrer an Pariser Gymnasien; denn - so sagte er in einem Interview - die Abhängigkeit als Autor vom Literaturbetrieb hätte er nicht ertragen.

Der Schriftsteller Goldschmidt: Neben seiner Arbeit als Lehrer schrieb er jahrelang Literaturkritiken für die Quinzaine Littéraire; er hat unter anderem Benjamin, Handke, Kafka und Nietzsche ins Französische übertragen; vor allem aber liegen zahlreiche Essays und Prosabände von ihm vor. Und doch hält er daran fest, kein Intellektueller zu sein. Das mag angehen, wenn man sich darunter eine Figur vorstellt, die von hoch oben, gepanzert mit wissenschaftlichen Termini, vom Menschen spricht. Goldschmidt schreibt bei allem theoretischen Wissen und bei aller Komplexität seiner Bücher plastisch, direkt und bildreich; seine Texte haben eine eigene Bewegung: Leküreeindrücke und autobiografische, fiktionalisierte Erfahrungen fließen ineinander. Man findet bei ihm tastende, sich langsam anbahnende Erkenntnisschübe, aber oft auch so etwas wie einen Ruck, ein Aufplatzen oder Aufspringen von Erkenntnis. Vielleicht kann man sagen, die Intellektualität dieses Autors wirkt besonders leicht, weil sie wortwörtlich vorgeht. Im Material der Sprache selbst sind Entdeckungen zu machen - das arbeitete Goldschmidt etwa in seinem Essay Als Freud das Meer sah heraus.

Sprache der Befreiung

Als Grenzgänger zwischen der Muttersprache Deutsch und seiner "Lebenssprache" Französisch zeigt er in diesem luziden Text: Die Struktur des Deutschen half Freud, die Psychoanalyse zu entwickeln. Ein Blick auf die Ethymologie der Wörter erweist, wie viel im Deutschen vom Körper ausgeht, wie sehr gerade diese Sprache an dessen Begierden und Gebärden gebunden ist. Deutsch kommt dem unmittelbaren Verstehen entgegen; "Trieb" etwa ist ein alltägliches Wort und wird sinnfällig in zahlreichen anderen, "treiben", "vertreiben", "durchtrieben". Im Französischen dagegen, so Goldschmidt, fand man erst aus der Notwendigkeit des Übersetzens 1906 das Wort "pulsion" für den Trieb, oder eben "désir", aber "désir", so hört es der Autor, drängt nicht, sondern zieht. Bei aller Bewunderung für das Deutsche ist das Französische für Goldschmidt die Sprache der Befreiung, des Widerstands - und das bedeutet dabei auch wieder nicht, dass er jedes seiner Bücher auf Französisch schreibt. "Eine Sprache ist die Zuflucht der anderen, ihre Sehnsucht nach dem, was sie selbst nicht ausdrücken kann."

In seiner Trilogie Die Absonderung, Die Aussetzung, Die Befreiung schildert Goldschmidt die Situation eines quasi elternlosen Kindes im französischen Exil, dessen Identität ganz unsicher ist - einmal gilt der Junge als Christ, schließlich ist er getauft, dann wieder als Jude. Der Junge fällt vom Deutschen ins Italienische, von dort aus ins Französische, das unmerklich zu seiner Sprache wird. Dies Kind, ein "er", auch ein "man", wird vor den Nazis versteckt; in einem Kinderheim, auf Bauernhöfen, in einem Internat in den Savoyen. Das Kind sucht Schutz. Es findet Fremde. Umgekehrt ließe sich aber auch sagen: Der Junge sucht Fremdes und findet Schutz. Das Fremde sucht er, um nicht an die Eltern denken zu müssen; die Erinnerung an sie ist für ihn lebensgefährlich. Und was wäre ein Schutz? Können Körperstrafen schützen? Der Junge wird von seinen Mitschülern gepeinigt, und die Erzieherinnen gehen mit ihm besonders streng um. Immer wieder wird er bestraft, ob als Bettnässer oder wegen anderer Vergehen.

Der Junge weiß, dass er nicht leben sollte, er weiß, dass er für Buchenwald oder für ein anderes KZ bestimmt war - er hätte ein Lampenschirm werden sollen und imaginiert sich immer wieder als einen Gegenstand. Zusätzlich erfährt er von seinen Erzieherinnen, dass andere Jungen in seinem Alter aufgrund ihrer Arbeit für die Résistance, die auch "solche wie ihn" schützte, längst hingerichtet worden seien. Was macht ein Kind mit den immensen Schuldgefühlen, die von allen Seiten auf es einstürmen? Der Junge, von dem Goldschmidt wieder und wieder schreibt, übt sich in den Jahren seiner Jugend in der Kunst des "Umstülpens". Es wird sein Stolz, die Zeichen umzudrehen. Schwäche verwandelt er in Stärke, Unsicherheit in Sicherheit, Unfreiheit in Freiheit. Was so abstrakt alles und nichts sagt, konkretisiert sich, verlebendigt sich in dem Augenblick, wo Schmerz in Lust umschlägt, wo die Strafe in die Entdeckung der Sexualität mündet und, so heißt es, als Lust "auflodert".

Masochismus ist kaum mehr ein Tabu; in der gegenwärtigen, durch und durch sexualisierten und dabei doch seltsam sterilen Gesellschaft ist er ein Kick unter anderen, mit denen weiter an der Reizspirale gedreht wird. Die allwaltende Indifferenz nickt schließlich auch dies Thema ab.

Goldschmidt erinnert sich dagegen in seinen soeben erschienenem Essay Die Faust im Mund daran, wie verboten es für seine Generation war, den eigenen Körper überhaupt wahrzunehmen. In den besseren Internaten durften sich die Zöglinge nur im Nachthemd waschen; Nacktheit war allenfalls vorgesehen, wenn die Jungen bestraft wurden. Literatur wurde eine teilweise zensierte, sich oft nur heimlich anzueignende Nachricht von dem, was man selbst verwirrt und verstört im eigenen Körper erlebte. Goldschmidt schreibt, er verdanke den Bekenntnissen von Rousseau seine Initiation in die "Souveränität der Scham". Wie kommt es, dass für die Figur des Jungen, der in allen Erzählungen und Essays Goldschmidts auftaucht, der Schmerz zu einer Obsession wird, die Strafe zu einer "Neugeburt", zu einer "Erlösung"?

Sprache zu Lust

Diese Obsession setzt sich in der Trilogie aus Vielem zusammen. Die ritualisierten körperlichen Züchtigungen waren eine verlässliche Größe im unsicheren Dasein des Jungen; sie teilten die Zeit ein, die ihm als einem potentiell Gejagten unfassbar war. Wichtiger: Sie befreiten ihn von der Angst, umgebracht zu werden; man gab sich immerhin mit ihm ab. Und das, obwohl er "schuldig" war - denn er lebte ja. Diese perfide Konstruktion, unter der viele Überlebenden der Shoa leiden, bewirkte bei dem Jungen, dass die Züchtigungen zur Bestätigung seiner Existenz wurden, zu einem "Seinstaumel": Es gab ihn. Die Strafe ging in Lust über, das Spiel mit sich selbst machte ihn zu einem "Wissenden". In der - natürlich ebenfalls schuldbeladenen - Selbstbefriedigung entdeckte er ein "verschwiegenes, verhaltenes Königreich, mit dem er sich selbst beschenken konnte."

Die Sprache der Trilogie wie die der Essays ist gleichzeitig schonungslos offen und dabei doch diskret; sie wechselt sprunghaft zwischen Nähe und Distanz. Viele Motive, ob es um frühe Lektüreeindrücke geht oder um das Gefühl der Scham, werden wiederholt aufgegriffen. So geht es auch im Essay Der bestrafte Narziß immer wieder um ein Kind, das ein jüngerer Bruder von Karl Philipp Moritz´ Anton Reiser sein könnte. Eine neue Erziehungsmethode der Lehrer besteht darin, das Kind zu zwingen, sich selbst zu strafen. Und wieder taucht die Figur der Umkehrung, des Umstülpens auf: "Derart ist die Verzweiflung des Kindes: Es schlägt, straft, wie es soll, als Subjekt seines Objektes schlägt es sich und kehrt damit die Schmach um: Ich bin das, was ihr von mir wollt, und indem ich es dermaßen bin, dass ich alle eure Erwartungen übertreffe, verneine ich euch." Der Körper des Kindes wird zur Bastion eines sprachlosen Widerstands, zu einer Herausforderung an die Erziehungskünste der Erwachsenen, die zähmen und/ oder zerstören wollen, was Goldschmidt als das Unerreichbare, das Unbekannte bezeichnet.

Immer wieder, so Goldschmidt, ist es die Literatur, die etwas vom Ich weiß, das niemand wissen darf. Das Verbot, zu existieren, diese "Seinsschuld", findet er nicht nur bei Pascal und Rousseau, sondern später auch bei Lautréamont und vor allem bei Kafka. Im Prozeß werde Josef K. zum Werkzeug seiner eigenen Anklage - so wie ein anderer, der keine Ahnung von seinen Wurzeln hatte, zum Juden erst gemacht wurde. Wie in dem Bild des gestraften Kindes findet er in einer identifikatorischen Lektüre bei zahlreichen Figuren Kafkas "dieselbe Unterwerfung, dasselbe Einverständnis, dieselbe vertraute und gleichzeitig fremde Faszination ... es ist, als könnte man sich erst in der Einschnürung erfahren." Beim Lesen von Goldschmidts Büchern, die bei aller Vielschichtigkeit, bei allem Schwarzen, von dem sie sprechen, etwas seltsam Leichtes, Helles haben, fällt einem unweigerlich eine Figur der frühen Ilse Aichinger ein: Die des Mannes, der in seiner Fessel wie ein Panther springt.

Wo ist die Trennungslinie zwischen Körper und Bewusstsein, wo sind ihre Berührungspunkte? Der Körper spricht in Lust und Schmerz alles aus, und doch verrät er nichts. Die Sprache eilt ihm nach wie der Hase dem Igel, sofern sie, so heißt es sinngemäß im Bestraften Narziß, nicht ihrerseits subversiv und unbotmäßig wird.

Was lässt sich sprachlich artikulieren? Nach Kafka, so Goldschmidt, besteht der Prozess "im Verlieren des Prozesses. So wie das Schloß aus seiner Unerreichbarkeit besteht." Und später heißt es, "die Literatur ist ihr ständiges Ungenügen .... ihre Unvollkommenheit ist ihr Daseinsgrund." Bei einer solchen, gleichzeitig bescheidenen und maßlos anspruchsvollen Poetologie bleibt nichts als das geduldige, hartnäckige Insistieren auf wiederkehrenden Bildern, fiktionalisierten Selbstzeugnissen, auf den Spiegelungen in Literatur. Damit hat Georges-Arthur Goldschmidt sein eigenes Königreich geschaffen.

Georges-Arthur Goldschmidt

Die Absonderung. Ammann, Zürich 1991, 170 S, 18 EUR

Die Aussetzung. Ammann, Zürich 1996, 180 S, 21 EUR

Die Befreiung. Ammann, Zürich 2007, 220 S, 19,90 EUR

Der bestrafte Narziß. Essay. Aus dem Französischen von Mariette Müller. Ammann, Zürich 1994, 158 S., 20 EUR

Als Freud das Meer sah. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Ammann 1999, 184 S, 19,90 EUR

Der Stoff des Schreibens. Aus dem Französischen von Klaus Bonn. Matthes, Berlin 2005, 176 S., 19,80 EUR

Die Faust im Mund. Essay. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Ammann 2008, 150 S, 17,90 EUR

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