Lost in Perfection

Klassiker Die Erzählungen von Lara Vapnyar "Es sind Juden in meinem Haus" kommen merkwürdig milde daher

In einer Moskauer Vorschule erfährt ein kleines Mädchen von seiner Spielkameradin, dass es Jüdin sei, also nicht normal, so wie die anderen. Das Kind kann sich mit niemandem besprechen. So fragt es seine einäugige Puppe, ob Jüdischsein egal ist oder schlimm. Ortswechsel: Eine Familie, Großeltern, Tochter, Sohn, ist aus Russland nach Brooklyn emigriert. Der Junge muss bei Behördengängen übersetzen; den Tratsch der in diversen Wartezimmern sitzenden Eingewanderten versteht er oft nur halb. Da soll etwa ein Arzt eine Mätresse haben. Bei einem Spaziergang mit dem Großvater stellt das Kind fest, auch der Großvater hat anscheinend eine, und sie ist sehr nett.

Eine verschüchterte Junglehrerin in Moskau soll ihre Schülerinnen in "Liebeskunde" unterrichten. Sie strickt sich eine Mischung aus Wissenschaft und Anekdoten ihrer Tante Galja zusammen, aber erst das Eingeständnis, dass es in Sachen Liebe Rätsel geben könnte, löst ihre Verkrampfung. Es sind Juden in meinem Haus ist das Debut von Lara Vapnyar, die 1994 von Rußland nach New York emigrierte. Das Buch umfasst sechs Erzählungen, sie spielen in Russland oder in den USA, der zeitliche Rahmen reicht von heute bis zurück in die Nazizeit.

So werden in der titelgebenden Erzählung die sich wandelnden Gefühle von zwei Frauen in einer von den Deutschen besetzten russischen Kleinstadt geschildert. Galina will ihre jüdische Freundin Raja schützen und versteckt sie und ihre Tochter bei sich. Aber jetzt gewinnt ein bisher kaum beachtetes Gefühl von Eifersucht an Macht: Raja, die nach konventionellen Begriffen nicht so schön ist wie Galina, reizte die Männer; sie hatte zeitweilig einen Geliebten, und ihr ganzes Leben ist reicher an Gefühlen und Träumen, reicher aber auch in materieller Hinsicht als das von Galina. Die betrügt Raja erst "nur" um ihren Schmuck. Später spielt sie mit dem Gedanken, ihre Freundin zu denunzieren. Raja muss das gespürt haben und verschwindet in eine absolut ungewisse Zukunft; man kann davon ausgehen, dass sie von den Deutschen gefangen und umgebracht wird.

Die Atmosphäre in diesen Erzählungen ist äußerst dicht, man wird beim Lesen ganz hineingezogen in die Empfindungen der Figuren. Man sieht auch die Räume vor sich, in denen sich das jeweilige Leben abspielt; wenige sparsam gesetzte Details erhellen, in welchem Milieu man sich befindet. Wenn man nach einer inneren Verbindung der Texte sucht, könnte man sagen, sie bewegen sich alle in einer ähnlichen Stimmung: Die Figuren stehen, selbst wenn sie umgeben von Familie, Freunden und Kollegen sind, letztlich doch einsam einem Rätsel gegenüber.

Lara Vapnyars Erzählungen wirken makellos, und die Rezensentin fragt sich, ob darin ein Makel liegen könnte. Warum verschwinden die meisten der Texte so schnell aus dem Gedächtnis, warum bleibt zwar vielleicht ein Ausschnitt zurück, nicht aber die jeweilige Handlung, die es aber doch gibt? Vielleicht geht es der Autorin nicht zuallererst um die Handlung, sondern vielmehr um eine Tonlage. Daran gibt es nichts zu kritisieren.

Auffällig ist die sonderbare Zeitlosigkeit, die über dem Buch liegt. Dabei gibt es konkrete historische Koordinaten, in denen die Figuren sich bewegen. Fünf der Erzählungen sind aus der Kinder- beziehungsweise Junglehrerin-Perspektive geschrieben. Sie gibt den Texten etwas gläsern Zartes, das manchmal fast nicht ganz von dieser Welt zu sein scheint. "Gesellschaft" oder, noch allgemeiner, die äußere Welt bildet lediglich einen schemenhaften Hintergrund für die inneren Entwicklungen der Protagonisten. Das ist nicht zu lesen als eine Flucht ins Private, in eine heile Nische; denn es geht von Text zu Text um Verstehen-wollen, um Selbstbehauptung oder, wie im Fall von Galina, um eine Selbsterkenntnis, die an Abgründe führt.

Trotzdem wirkt das Buch insgesamt eigenartig sanft. Das irritiert bei sämtlichen Themen, um die es hier geht. Die Immigration von Ost nach West beispielsweise ist oft genug als etwas Zerreißendes nachvollziehbar gemacht worden; als Bruch der Identität; man denke nur an Eva Hoffmans Buch Lost in translation, nicht zu verwechseln mit dem Film gleichen Titels. Im Vergleich mit Eva Hoffmans offensivem, teilweise befreiend aggressivem Vorgehen verfährt Lara Vapnyar defensiv, sie breitet die Konflikte nicht in aller Schärfe, nicht in aller schreienden Disharmonie aus.

Wenn man sehr böswillig gestimmt ist, könnte man sich fragen, ob es daran liegt, dass dieses Buch als die große Entdeckung der jungen amerikanischen Literatur gefeiert wird. Aber ist das nun amerikanische, oder ist es postsowjetische, oder russische Literatur? Die Behauptungen des Nationalen taugen immer weniger, um heutige Texte zu verstehen. Lara Vapnyars Erzählungen könnten, geographisch gesehen, nahezu überall spielen. Ihr Buch hebt sich sprachlich fort von konkreten Orten und ihren Einflüssen. Auch auf Ebene der Sprache entfernt es sich gewissermaßen aus der Zeit; es schert sich nicht um literarische Moden da oder dort. Es ist weder cool, noch abgeklärt, noch zynisch; die Sprache ist ruhig, eher konventionell. Sätze wie der folgende finden sich gottseidank selten: "Die Griffe meiner übergroßen Segeltuchtasche gruben sich schmerzhaft in meine Handfläche." Das klingt nach Fleißarbeit und ermüdet gerade in seiner Vollständigkeit. So etwas wie "Vollständigkeit" gibt es auch auf der Ebene der Aussage: Noch wenn die Texte, wie in der Titelerzählung, ein offenes Ende haben, legen sie dem Leser ein Ergebnis, einen Schluss nahe.

Bei allem, was den jeweiligen Figuren widerfährt, ob Bedrohliches, Trauriges oder ihnen Unverständliches, die Texte sind derartig klug kalkuliert, dass sie ihrerseits beinahe klassisch und harmonisch wirken. Oder abgeklärt. Harsch gesagt, eignen sie sich gut für die Interpretationsarbeit im Deutschunterricht. Sie geben einen Denk- und/oder Fühlanstoß, zielen auf eine oft vorhersehbare Pointe, dann ziehen sie sich diskret zurück. Sie sind melancholisch, unaufdringlich, nachdenklich, und vielleicht insgesamt etwas zu mild.

Lara Vapnyar: Es sind Juden in meinem Haus. Erzählungen. Aus dem Englischen von Monika Schmalz. Berlin, Berlin 2005, 170 S, 18 EUR


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